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  • Irwisch

mehr als 1000 Beiträge seit 22.03.2005

Strafsucht – Kontrollsucht – Rache

Strafe – ein Verbrechen? So lautet der Titel eines bereits 1968 erschienenen Buches von Karl Menninger, das er mit dem Untertitel Erfahrungen und Thesen eines amerikanischen Psychiaters versah. In diesem Buch geht es unter anderem darum, die Sinnhaftigkeit von Strafen hinsichtlich der Reduktion von Gewaltkriminalität zu untersuchen.

Wie wir heute wissen – eigentlich dürfte ich nicht wir schreiben, denn meiner Beobachtung und Kenntnis nach wissen die meisten Menschen davon nichts bzw. wollen davon nichts wissen –, stellt Bestrafung nicht nur das mit Abstand ungeeignetste Mittel zur Resozialisierung von Tätern dar, sondern ist zudem grundlegend für die kindliche bzw. frühkindliche Entwicklung zum stark entfremdenden Gehorsam. Gehorsam bedeutet die Unterwerfung des eigenen Willens unter den eines anderen Menschen, also im Grunde Sklaverei.

Mit wenigen Ausnahmen in der Justiz einiger Staaten, die sich gut bewährt haben, bilden die angeführten Übelstände nach Ansicht des Autors die Wurzeln der Rückfälligkeit und einer Entwicklung, die der Verfasser als »Crime of punishment«, als Verbrechen des Systems am Verbrecher bezeichnet, d.h. seine Erziehung zum abgrundtiefen Haß gegen Polizei, Justiz, vor allem gegen die am Strafvollzug Beteiligten und schließlich zum Haß gegen eine Gesellschaft, die als Leitmotiv die Rache für eine Straftat, das Auge um Auge, Zahn um Zahn, von der Strafrechtspflege verlangt. Menninger, a.a.O, aus dem Vorwort von Wolfgang Laves, Professor für Gerichtliche und Versicherungsmedizin in München, S. 8

Die Bestrafung von Kindern, die zu ihren Eltern in einem absoluten Abhängigkeitsverhältnis stehen, fördert die Produktion von Unbewußtheit. Das bedeutet, daß Kinder zwangsläufig die von den Eltern als unerwünscht gekennzeichneten Anteile ihres Selbst nicht nur verdrängen müssen, um der Strafe zu entgehen, sondern regelrecht abspalten müssen. Abspaltung ist ein Prozeß, der dafür sorgt, daß die entsprechenden Impulse nicht mehr bewußt wahrgenommen werden können, aber dennoch im Bereich des Unbewußten weiterwirken und ans Licht des Bewußtseins drängen. Menschen, die davon betroffen sind – und das sind meiner Überzeugung nach die allermeisten –, rationalisieren aufkommende Impulse, die sie nicht einordnen können; das heißt, sie erklären sie entweder hinweg oder weisen das, was sie da so unheilvoll und nebelhaft verspüren, Bereichen ihres Innenlebens zu, die sozusagen noch übrig sind. So wird z.B. auch das Rachebedürfnis nach erfahrener Hilflosigkeit und Ohnmacht, nach wie auch immer gearteten Gewalterfahrungen zurechterklärt, indem man z.B. davon spricht, die Gesellschaft vor Gewalttätern und anderen Kriminellen schützen zu müssen oder den Straftätern Gelegenheit zu geben, das Unrecht, das sie begangen haben, einzusehen und Reue zu entwickeln.

Tatsächlich aber erinnern sich Strafbefürworter, wenn sie in den Massenmedien von Gewaltverbrechern lesen oder hören, an die eigenen, oft weit zurückliegenden Gewalterfahrungen – an einen »heiligen« Zorn, den sie aber nicht wahrnehmen dürfen, weil sie dazu konditioniert wurden, solche Empfindungen als völlig inakzeptabel zu interpretieren. Das führt dazu, daß sie allen anderen, die Wut, Gewaltbereitschaft oder gar Gewalttätigkeit zeigen oder gezeigt haben, wünschen, ebenso zu verfahren: Die Wut unterdrücken oder erst gar nicht wahrzunehmen. So glauben heute noch immer die meisten Menschen, Strafe würde dafür sorgen, daß auch aus Straftätern Menschen werden wie sie, die (angeblich) keine Wut und keine Gewaltbereitschaft empfinden und dann auch keine Gewalttaten oder andere Verbrechen mehr begehen könnten.

Daß das nicht funktioniert, zeigen praktisch alle Studien zur Rückfälligkeit von Straftätern. Verdrängen oder Abspalten von Wut, Zorn, Gewaltneigung usw. führt ja nicht dazu, daß diese Tendenzen verschwinden, sondern entziehen sie vielmehr der persönlichen Kontrolle, was sehr anschaulich bei Cholerikern zu beobachten ist, die ganz plötzlich und unerwartet zu Zornesausbrüchen neigen. Ein Choleriker projiziert dann seinen Zorn auf jene, denen er in diesem Augenblick gilt, und rechtfertigt ihn mit deren angeblichem Fehlverhalten: »Seht nur, was ihr mich wieder zu tun gezwungen habt.« Nur wenige Choleriker erlangen jemals Einsicht in ihr Verhalten, ganz besonders nicht, wenn sie ihre Anfälle straflos ausleben können, weil sie sich in Machtpositionen befinden.

Die im Artikel aufgeworfene Frage, ob ein ehemals zur Vergasung von Juden verwendetes Giftgas als Hinrichtungsmittel moralisch vertretbar sei, geht am eigentlichen Problem völlig vorbei. Solche Fragen lenken massiv davon ab, was dem zu bewältigenden Problem tatsächlich zugrunde liegt, nämlich die weltweit verbreitete Gewalt- und Gehorsamserziehung. Um Strafen als notwendig zu erachten und somit zu verteidigen, werden immer wieder gerne – wie auch im Artikel – Kindermorde angeführt und daß die Eltern eines ermordeten Kindes erst wieder ruhig schlafen könnten, wenn der Täter seine »gerechte« Strafe erhalten habe.

Der Psychoanalytiker Arno Gruen hat in seinem Buch Dem Leben entfremdet eine Therapiemethode beschrieben, die einst mit Häftlingen in einem Jugendstrafanstalt realisiert wurde:

Wenn die Gewalttäter jedoch mit ihrer eigenen Gewalttätigkeit konfrontiert werden, die sie ja nicht verneinen, sondern sogar damit prahlen, geraten sie in ganz unmittelbare Berührung zu ihrem Handeln. Nur durch diese Konfrontation können sie Scham erleben, und somit den Schmerz, den sie anderen zugefügt haben, nachvollziehen. »Es schmerzt,« schrieb der jugendliche Mörder des obdachlosen Mannes, nachdem er mit seinem Tun konfrontiert wurde, »wenn du so lange auf Eis gelegen hast und plötzlich fließt Blut durch deine erstarrten Adern. Aber das einzige, was hilft, ist, dir die Wunden, die du den anderen zugefügt hast, und die Wunden, die andere dir zugefügt haben, anzusehen.« Auf die Konfrontation folgen schlaflose Nächte, in denen Scham, Schuld und Schmerz verarbeitet werden.

Bei der Arbeit mit Mördern im psychiatrischen Gefängnis im englischen Broadmoor habe ich selbst Ähnliches erlebt. Dadurch erlebten sie den Schmerz ihrer Opfer und schließlich den eigenen Schmerz. Die Patienten übten verschiedene Shakespeare-Dramen ein. Ihre erste Reaktion war ein Versuch, sich selbst das Leben zu nehmen, da das Erleben von Schmerz unerträglich war. Der Schmerz war so unerträglich, weil sie schon so früh, wie die jugendlichen Gewalttäter auch, Schmerz verneinen mussten. Diese Mörder oder die oben beschriebenen Jugendlichen waren skrupellos und gewalttätig. Aber für uns, die ja auch zu Leistung und Wettbewerb erzogen wurden, existiert kein Bewusstsein dafür, dass wir ebenfalls Gewalt ausüben. Der Schmerz des anderen – wenn auch subtiler und ohne Blutvergießen – und auch der eigene existieren in unserer Wahrnehmung genauso wenig, weil die Abstraktion über Leistung und Wettbewerb dies als lobenswertes Ziel nicht zulässt.

Ich kann nur jedem empfehlen, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Jeder Mensch sollte sich mit der eigenen Psyche auskennen, will er nicht vom einstigen Opfer zum Täter werden.

Eine fundierte und kritische Auseinandersetzung mit unserer eigenen Psyche tut also not. Psychologie ist mancherorts leider ein universitäres Lehrfach, das neugierige Studierende zu weltfremden Akademikern ausbildet. Einer der wesentlichen Denkfehler der an den Universitäten gelehrten Psychologie besteht meines Erachtens darin, die Menschen für alle ihre Probleme selbst verantwortlich zu erklären. Als wäre alles nur eine Frage von Einstellungen, Haltungen und »Resilienz«, ob es jemand psychisch gut geht oder nicht. Ausgeblendet oder zur bloßen Nebensächlichkeit erklärt wird dabei das, was den Menschen von außen an traumatischen Schädigungen zugefügt wird. Zudem wird die Psychologie in traumatisierten Gesellschaften auch noch als Herrschaftswissen mißbraucht, um einzelne Menschen und Menschengruppen einzuschüchtern, zu manipulieren, zu kontrollieren, zu belügen und zu terrorisieren. Z.B. bieten Werbeagenturen Militärs und Geheimdiensten ihre psychologischen Dienste an, um Feindbilder zu kreieren und damit Kriege propagandistisch vorzubereiten und der Bevölkerung als sinnvoll zu verkaufen (Mausfeld 2017). Franz Ruppert: Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft?, S. 50

https://www.youtube.com/results?search_query=Karl+Menninger
http://www.irwish.de/Site/Biblio/Soziologie/Menninger.htm

https://www.youtube.com/results?search_query=Ruppert+wer+bin+ich
https://www.klett-cotta.de/buch/Trauma/Wer_bin_Ich_in_einer_traumatisierten_Gesellschaft_/96791

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (04.06.2021 15:06).

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