auf_der_hut schrieb am 15.09.2022 01:03:
Ich verstehe den Punkt, es ist mir aber zu unhistorisch und von nur heute aus bewertet.
Ich finde es ist ein reichlich verengtes Verständnis, wenn man die Haltung zu Hitler zum einzigen Maßstab für die Bezeichnung "Nazi" nimmt, insbesondere in der Rückschau auf historische Figuren, die das Ende Hitlerdeutschlands noch nicht kannten. Man darf den historischen Kontext nicht ausblenden: für die Ukrainer, wo unter Stalin Millionen verhungerten oder deportiert wurden, war Hitler eine Verheißung auf eine bessere Zukunft und dessen Antisemitismus störte sie nicht oder sie teilten ihn sogar - allerdings nicht seinen fanatischen Vernichtungswillen. Hier unterschieden sie sich nicht so sehr von Deutschen dieser Zeit, die Hitler an die Macht gewählt hatten. Zum Zeitpunkt der durch deutsche Einsatzgruppen verübten großen Massaker wie dem von Babi Jar befand sich Bandera bereits in "Ehrenhaft" in Sachsenhausen. Man muss auch bedenken, dass der Judenmord auf dem Boden der heutigen Ukraine zu Sowjetzeiten jahrzehntelang nicht als Teil des Holocaust erwähnt werden durfte, ebenso wenig wie die Rolle der Kollaborateure, und so nicht den Weg in das kollektive Gedächtnis finden konnte. Der Holocaust war Auschwitz, Treblinka, Belsen, es war eine Tat der Deutschen, damit hatte Sowjetrussland und die Ukraine nichts zu tun. Und so kommt es dass in der Ukraine erst viel später sowohl Gedenkstätten für die ermordeten Juden wie auch für den Nationalisten Bandera entstanden. Das erscheint widersprüchlich, bedeutet aber keineswegs dass die ukrainischen Banderisten den Judenmord gutheißen. Sie sehen ihn als Tat der Deutschen, verübt auf ihrem Boden, aber nicht als Teil ihrer eigenen Geschichte. Der Anteil der einheimischen Kollaborateure wird ausgeblendet.
Bandera war auch beileibe nicht der einzige Kollaborateur, der heute wieder hohes Ansehen genießt. Wie sieht es mit der Verehrung für Stalin in Russland aus? Als Kollaborateur war Bandera gegen den ein ganz kleines Licht. Stalin half Hitler vor dem Krieg heimlich bei der Aufrüstung, insbesondere beim Aufbau der Luftwaffe. Er machte mit Hitler gemeinsame Sache bei der Liquidierung Polens und von dessen Eliten (Katyn). Stalin sah in Hitler einen Verbündeten gegen den Westen und vertraute auf den Nichtangriffspakt, den er mit Deutschland geschlossen hatte, bis die Panzer über die Grenze rollten. Er konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass Hitler seine wirren Theorien zu Herrscherrassen und Untermenschen wirklich ernst meinte und die Vernichtung der Sowjetunion und des Bolschewismus (neben der Vernichtung des Judentums) sein wichtigstes Kriegs- und Lebensziel waren. Um einen echten Fanatiker wie Hitler richtig einzuschätzen fehlten dem misstrauischen, zynischen Machtmenschen Stalin anscheinend die Antennen.
Der "Sieg über Nazideutschland" war eigentlich die Fortsetzung der sowjetischen Expansion nach Westen, die mit der Teilung Polens und dem Winterkrieg gegen Finnland begonnen hatte. Der deutschen Angriff unterbrach die Weiterführung für drei Jahre und wurde nach dem Zusammenbruch der deutschen Heeresgruppe Mitte 1943 fortgesetzt. Der anschließende Feldzug führte zur Annexion von Ostpolen und des Baltikums und zu einer sowjetischen Einflusssphäre, die ganz Osteuropa und halb Deutschland umfasste. Russland war die einzige Siegermacht des 2. Weltkriegs, die nennenswerte territoriale Gewinne verbuchen konnte. Den Preis für den Sieg bezahlten vor allem die Völker Osteuropas, die ein realsozialistisches Zwangssystem übergestülpt bekamen, dass sie über 40 Jahre nicht mehr los wurden. Für die ist der "Sieg über Nazideutschland" daher mit durchaus gemischten Gefühlen verbunden.
Danke!