Das Posting schließt sehr locker an den Thread an, den ich hiermit abgebrochen hatte.
Die Frage wäre auf der Grundlage einer tauglichen und zugleich aktuellen Imperialismustheorie zu beantworten, aber die gibt es nach der Demission der Roten Zellen / Marxistische Gruppe 1991 nur in Rudimenten.
In beträchtlichem Umfang ist allerdings eine rein faktenbasierte Antwort zu haben, die zwar nichts wirklich erklärt, aber immerhin parteilichen Unfug obsolet macht. Sie ergibt sich m.E., wenn man drei Papiere aufmerksam liest.
1) NATO’s Enlargement and Russian Perceptions of Eurasian Political Frontiers, Igor Zevelev, George Marshall European Center for Security Studies
https://www.nato.int/acad/fellow/98-00/zevelev.pdf
Das Papier ist undatiert, dem Inhalt nach aber im Laufe des Jahrs 1999 entstanden, nämlich vor der Wahl Putins im Mai 2000. Viele Leser werden sich erinnern, daß Putin in D. hoffnungsvoll begrüßt, teilweise gar bejubelt wurde. Zevelev zeigt, daß die politische Klasse der USA vor dieser Wendung diametral gespalten war zwischen der einflußreichen Gefolgschaft Brzezínskis, der die Russische Föderation mit allen verfügbaren Mitteln zu zerlegen strebte, und einem "realpolitischen" Flügel, der das Gegenteil wollte, auch um den Preis, der RF einen Regionalmachtstatus einzuräumen, der ihre Eliten zu saturieren vermöchte.
2) Das Papier stammt von 2005, aus der Zeit der großen NATO-Erweiterungsrunde im Gefolge des Prager NATO-Gipfels von 2002
(die Gipfelerklärung:
https://nato.diplo.de/blob/2203136/f4ca71a0b2d6f9052e6a444a7595fb43/erklaerung-der-staats--und-regierungschefs-2002-prag-data.pdf)
Ich denke, man kann sagen, daß die kurze Arbeit aus dem French Institute for International and Strategic Affairs (IRIS) den Standpunkt der europäischen Atlantiker repräsentiert, namentlich des "Neuen Europa", das Donald Rumsfeld etwa gleichzeitig aus der Taufe hob, als es darum ging, Frankreich und Deutschland in eine vorderasiatische Angriffsfront (Irak, Iran) zu nötigen.
https://www.iris-bg.org/fls/Nato_Strategic_Implications_Eurasia.pdf
Das Motto des Papiers:
“Who rules East Europe commands the Heartland;
Who rules the Heartland commands the World-Island;
Who rules the World-Island commands the World."
Sir Halford Mackinder, 1919
Ich sage dazu: Es ist da die Entlastung zu sehen, der der Vierte Weltkrieg, der "War on Terra", oder, korrekter gesagt, der "Weltkrieg gegen antiamerikanische Umtriebe" für viele europäische Strategen und Eliten bedeutet hat, weil der die "Weltlage" für sie - irrigerweise! - auf den einfachen, scheinbar kalkulierbaren Stand zurück zu führen schien, der zur Zeit des "Systemgegensatzes" Bestand hatte.
Russland war in dieser geopolitischen Weltsicht gleichsam an den "Rand des Imperiums" gerückt, es war weder eingeschlossen, noch ausgeschlossen, aber die NATO-Erweiterungsrunde zählte darauf, daß ein "natürlicher" Widerstand dagegen die russische Zentralmacht stärken mußte - in Zentralasien, gegen China! Das war gewissermaßen ein "Brzezínski-Rittberger", von hinten durch die Brust ins Auge, eine heimtückische "Kooptierung" der russischen Zentral- und Nuklearmacht.
Das russisch-amerikanische Verhältnis blühte in dieser Zeit vordergründig auf, bis zu der Zeit, da die Putschisten hinter der amtlichen amerikanischen Administration, eine Blase aus Neocons, Libdems und Zionisten, den Georgienkrieg inszenierten und einen Nuklearschlag gegen den Iran vorzubereiten begannen.
3) Das ist eine Bilanz der Rand-Corporation aus 2017:
Russian Views of the International Order
https://www.rand.org/content/dam/rand/pubs/research_reports/RR1800/RR1826/RAND_RR1826.pdf
Sie sagt im Wesentlichen: Kooptierung Russlands zugleich maßgeblich erfolgreich (gegen China und EU) und gescheitert: Es gebe keinerlei Hoffnungen mehr, je eine russische Führung in den Umkreis eines amerikanischen Imperiums zu ziehen.
Mein Fazit: Die "NATO-Aggression" hat in Russland weder Ziel noch Zweck. Viele NATO-Verantwortliche mögen in dem Wahn handeln, es gehe darum, die RF von heute zu vernichten, entweder durch Zerlegung oder durch Beugung der Zentralmacht, aber das objektive Ziel der NATO in Bezug auf Russland besteht darin, diesen formidablen Feind zu erhalten und zugleich ökonomisch zu schwächen, sodass er einer veritablen NATO-Militärherrschaft über Europa nur nützen, nicht im Wege stehen kann.
Das ist gewissermaßen ein Revival des "Kalten Kriegs", aber nur formell. Der Sache nach handelt es sich um eine Zerstörung des Weltmarktes, den die Abdankung der Realsozialisten vollenden half. Er taugt den Militaristen und Weltherrschaftsapologeten nicht länger, und ein Teil der westlichen und östlichen Oligarchen, der Führer der heute vielleicht noch 120 großen Wirtschaftskonglomerate, die den Weltmarkt in der Substanz unter sich aufgeteilt haben, schließt sich diesem selbstzerstörerischen Konzept an, weil er final unduldsam mit den Schranken geworden ist, die ihm der Aufstieg des chinesischen Despotismus in den Weg zu legen scheint.
(de facto profitieren sie auf breiter Ebene von ihm, ein Realismus der sich u.a. im Umkreis des WEF sammelt, aber daran krankt, nicht über ultimate Waffen zu verfügen. Jedenfalls noch nicht ...)
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (24.01.2022 15:31).