Udo Mundlos schrieb am 01.09.2021 17:03:
In der Ukraine wird NS2 recht einhellig als außenpolitische Niederlage des Landes angesehen. Interessanterweise gibt es mittlerweile darunter auch einige Stimmen, die die Schuld daran durchaus auch bei der Ukraine selbst sehen.
Das von der Sowjetunion geerbte Gasleitungssystem wurde über viele Jahre hinweg als quasi garantierte Geldquelle angesehen, die man einfach nur melken muss. Gesetzlich war eine Privatisierung des Gasleitungssystems verboten, es wurde als wertvoll betrachtet und sollte nicht in die Hände von Ausländern fallen. Mittlerweile sagen viele, dass es für die Ukraine besser gewesen wäre, wenn man das Gasleitungssystem rechtzeitig an z.B. die EU oder Deutschland übertragen hätte - mit der Konsequenz, dass in diesem Fall Ausländer (gegen Entgelt) das System betrieben (und auch instandgehalten) hätten und somit auch Russland einen verlässlicheren Vertragspartner gehabt hätte. Dann, so die nicht ganz abwegige Schlussfolderung, hätte Russland weniger Anreiz besessen, NS1 und nunmehr NS2 zu bauen. Allerdings kommen diese Überlegungen jetzt natürlich zu spät und dementsprechend geht es für die Ukraine nur noch darum, Konsequenzen aus der neuen Sachlage zu ziehen.
Leider lügen sich Politik und Medien in einem wesentlichen Punkt immer noch selbst etwas vor: Es funktioniert auf Dauer nicht, einerseits Russland bei jeder Gelegenheit ans Bein zu urinieren und zugleich zu erwarten, dass Russland weiterhin brav die alten Transportwege unverändert weiternutzt und Geld an die aktuell ziemlich russlandfeindliche Ukraine zahlt. Das würde im Privatleben nicht funktionieren, und es funktioniert in der Außenpolitik nicht (jedenfalls nicht bei Russland).
Mal schauen, wann diesbezüglich in der Ukraine die Einsicht reift.
Diese Argumentation spielt nur über Bande. Denn hätte es ein Eigentümerkonsortium von Energieversorgern aus der EU gegeben, dann hätte diese juristische Person in der Ukraine genau die gleichen Figuren mit Schmiergeldern versorgen müssen, die in den letzten 3 Jahrzehnten aus dem staatlichen Energiekonsortium faktisch die Gelder hinausgetragen haben. Die Ausländer hätten keine Chance gehabt sich gegen diese Forderungen effektiv zu wehren, da die Pipeline physisch vor Ort liegt und damit Angriffsfläche für Sabotageakte bietet.
Und schon aus diesem Grund hätten sich die Mitglieder eines solchen fiktiven ausländischen Eigentümerkonsortiums sehr schnell nach Alternativen umgesehen und wären auch wieder bei Nordstream I + II gelandet.
Eine Privatisierung der Leitungen hätte weder die Korruption in der Ukraine gestoppt noch wäre es für die Abnehmer des Gases in der EU preiswerter geworden.
Das Problem der Ukraine wäre durch eine Privatisierung nicht gelöst worden, dann deren Problem ist nicht ihre geographische Lage und nicht ihre materielle Ressourcenausstattung, deren Problem ist der intellektuelle Rahmen, in welchem sich die ukrainischen Eliten bewegen. Deren Vertreter haben seit 30 Jahren nicht verstanden, dass sie trotz der enormen territorialen Größe des Landes und trotz der industriellen Infrastruktur 1991 in Europa ökonomisch nur ein Zwerg sind, der noch dazu am Rand der Wertschöpfungsketten liegt, nicht im Zentrum.
Die ukrainischen Eliten haben ein Verhaltensmuster der Stärke, jedoch ohne die Basis für ein solches Verhalten. Sie wollen von der RF und der EU auf Augenhöhe behandelt werden und verkennen dabei, dass deren Vertreter im Kontrast zur Ukraine durchaus eine Position der Stärke vertreten können. Die ukrainischen Eliten verhalten sich wie Schulhofschläger die zur Armee kommen und dort denken die in ihrer Dorfschule eingeübten Methoden auch in ihrer neuen Einheit umsetzen zu können. Dummerweise gibt es in der Armee aber schon ganz andere Schläger mit ganz anderen Kontakten, die den neu dazu gekommenen Schulhofschlägern ganz klar aufzeigen, gegen wen sie agieren können und gegen wen nicht.
Eine solche Fehleinschätzung der eigenen Position ist nicht nur den ukrainischen Funktionseliten zu eigen, sondern läßt sich im gesamten Transformationsraum nach 1990 finden. Seien es Monostädte in Ostdeutschland, Polen oder Ungarn, überall die gleiche Leier: Für die Einschätzung der Leistungsfähigkeit im Kapitalismus zählt nicht wer wann was wo erreicht hat. Es zählt ausschließlich was wer wann wo und wie erreichen kann. Und da sieht es eben insbesondere für die Ukraine nach 30 Jahren Brain Drain in die EU und in die RF sehr schlecht aus. Es sind ja nicht die unfähigsten 30% der Bevölkerung abgewandert. Die Ukraine hat (ebenso wie die drei baltischen Staaten aber eben auch wie Rumänien und Bulgarien) mittlerweile das Problem des "West-Berlin-Effektes". Wer kann, der geht. Es bleiben die Unfähigen und es kommen die, die mit fremden Geldern Propaganda-Projekte umsetzen.