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  • Rubashov

846 Beiträge seit 02.07.2000

Re: Ukrainische Entscheider haben ungeschickt agiert

Arutha schrieb am 01.09.2021 21:09:

wow, kluger Beitrag.
ich würde nur das Problem noch etwas tiefer ansetzen.
es stellt sich nämlich die Frage, wie es überhaut möglich war, eine solche Machtfülle den Schulhofschlägern zu übertragen.
Also, was ist schon in der Dorfschule schiefgelaufen?
.. und jetzt kommen wir in eine Minenfeld von Begriffen wie Ethik, Moral, Gerechtigkeit, Ehre, Kulturelle-Prägung... lauter Begriffe die auf dem Schulhof eine Rolle spielen.

Das ist relativ einfach erklärt:

Die Ukrainische SSR war Gründungsmitglied der UdSSR und hatte aufgrund ihrer Lage, ihrer industriellen Basis und ihrer Bevölkerungsstruktur innerhalb der UdSSR eine hohe Bedeutung und hatten deren Vertreter entsprechenden Einfluss innerhalb der UdSSR.

Die Ukrainer waren von der Anzahl der Menschen die zweitgrößte ethnische Gruppe in der UdSSR und nach den Russen entsprechend häufig in Leitungspositionen in der gesamten Union.

Und daraus kann man dann schon einmal (fälschlicherweise) ableiten, man sei als Angehöriger dieser Gruppe wichtig, bedeutsam und können auch dann Forderungen aus einer Position der Stärke heraus stellen, wenn die Union nicht mehr existiert.

Die Ukrainer waren innerhalb der UdSSR so etwas wie der kleine Bruder der Russen. Nun ist der große Bruder aber aus dem Familienverband mit dem Rest der Familie ausgetreten, hat sich das Gutshaus genommen, einen Zaun drum herum gezogen und den anderen Verwandten und entfernten Angehörigen erklärt, diese müssten sich ab sofort um sich selber kümmern. In ihren kleinen Ackerbürgerhäuschen und Tagelöhnerhütten.

Und diese Deklassierung ist bei vielen ukrainischen Funktionsträgern intellektuell nicht angekommen. Sie sind nicht mehr Vize in einem großen Land, sie sind nur noch Chef im eigenen Land und müssen jetzt ganz alleine zeigen was sie können. Das machen die anderen Ackerbauern und Tagelöhner aber auch. Die sind jetzt alle Chef in der eigenen Hütte und lassen sich vom ehemaligen zweiten Mann im Staat nichts mehr erzählen.

Und das ist das Problem der Verhaltens der "Stärke" der Ukrainer, ohne die Basis für eine solche Stärke zu haben. Sie waren 1991 stark genug die Union aufzukündigen, sie waren 1992 ohne die Union aber schon nicht mehr stark genug, ihr eigenes Haus auf Vordermann zu bringen und den geänderten Verhältnissen anzupassen. Sie wollten behandelt werden wie die Russen mit ihrem Gutshaus. Sie wurden von den Handelsvertretern aus den anderen Ländern aber nur behandelt wie die Einwohner einer Tagelöhnerhütte. Viele der Handelsvertreter aus den anderen Ländern wussten noch nicht einmal, dass es eine ukrainische Sprache gibt, dass die Ukraine eine eigene Nationalgeschichte und nicht nur eine Regionalgeschichte hat, etc. Die Handelsvertreter haben die Ukrainer behandelt wie den kleinen, verarmten und unfähigen Bruder des Gutsbesitzers.

Das ist die Tragik der Ukraine. Ihre Eliten haben es komplett verspielt. Anstatt das Schweizer Staatsmodell zu adaptieren, haben die Eliten wie in einem postkolonialen Land Afrikas einfach nur die Bevölkerung ausgenommen. Immer mit der Spekulation, sich mit dem Geraubten dann nach "Europa" absetzen zu können, sollten sie einmal von den Futtertrögen vertrieben werden.

In der RF hat die antiliberale "Konterrevolution" der Sicherheitskräfte diesem Treiben ab 1999 ein Ende bereitet und ist mit den Oligarchen eine Symbiose eingegangen. Solange sich die Oligarchen den nationalen Sicherheitsinteressen unterordnen, können sie treiben was sie wollen. In der Ukraine ist dies nicht passiert. Es gab keine Klammer, die das Land zusammen gehalten hat und die die Oligarchen geeint hätte. Es gab einfach nicht die Fiktion der von der Sowjetunion geerbten Stärke und historischen Funktion, wie sie in der RF seit 2000 propagiert wird. Die Ukraine sieht sich nicht als historischen Nachfolger der Sowjetunion und damit nicht als Erben der Leistungen und der Leistungsfähigkeit der UdSSR, so wie es das russländische Staatsnarrativ seit den frühen 2000er Jahren für die RF beschreibt.

In den anderen Nachfolgestaaten war diese staatstragende Klammer der Ethno-Nationalismus. Kasachstan den Kasachen! Usbekistan den Usbeken! Etc. Ethnische Minderheiten wurden diskriminiert, repressiert, exiliert. Erst in den letzten Jahren hat sich dies etwas abgeschwächt, von Armenien und Aserbaidschan mal abgesehen. Jetzt heißt es zum Beispiel: Kasachstan den Kasachstanern! Und auch die Esten wollen die ethnischen Russen nicht mehr abschieben, sondern dulden diese mittlerweile.

Die Ukraine ist erst sehr spät auf diesen nationalistischen Zug aufgesprungen. Und wie bei vielen nachholenden Entwicklungen sind diese in viel kürzerer Zeit verlaufen und sind damit deutlich sichtbarer als langsam verlaufende Prozesse. Von den drei baltischen Staaten abgesehen haben die Sprachengesetze und die Schriftreformen in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion sich über Jahre entwickelt. In der Ukraine kamen diese Instrumente der nationalstaatlichen Abgrenzung und inneren Homogenisierung gegenüber dem sowjetischen Erbe sehr spät, dafür aber umso radikaler.

Da die fähigen Köpfe aber schon seit 1991 abgewandert sind, fällt den Zurückgebliebenen die Moderation dieses Prozesses um so schwerer. Die machen nichts anderes, was andere nationale Eliten in anderen Staaten nicht schon vor ihnen gemacht haben. Wundern sich aber trotzdem, dass ihnen als Spätentwickler nicht die reifen Trauben in den Schoss fallen.

Es gibt einen alten Witz, der die Situation ganz gut beschreibt (und den man auf viele Länder anpassen kann):

Die Dummen lernen aus den eigenen Fehlern.
Die Schlauen lernen aus den Fehlern Dritter.
Die Ukrainer wiederholen die Fehler Dritter, bevor sie aus diesen lernen.

"Ukrainer" ist hier nur eine Adaption, den Witz gibt es mit beliebigen Nationen- und Gruppennennungen. Er passt hier meiner Meinung nach aber recht gut.

Man kann die Tragik der Ukraine auch mit einem anderen Bild beschreiben:
Der ehemalige Vizedirektor eines oligopolistischen Großunternehmens hat einfach in den letzten 30 Jahren sein aus dem Konkurs des Großunternehmens hervorgegangenen mittelständigen Betrieb in den Konkurs gewirtschaftet, weil er Lieferanten und Kunden gegenüber weiterhin als Vizedirektor eines Großunternehmens aufgetreten ist und nicht als Eigentümer eines KMU, welches sich neu am Markt positionieren und gegen Konkurrenz behaupten muss.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (01.09.2021 22:14).

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