...ungefähr soviel Faschismus wie in der SPD der Kaiserzeit Bolschewismus steckte. Also praktisch nichts: zwar waren in der alten Sozialdemokratie an der Parteibasis gewisse romantische Vorstellungen von der angeblich bevorstehenden proletarischen Revolution nicht totzukriegen, in der Tagespolitik der SPD spielte die Weltrevolution aber keine Rolle, man hatte mit so ganz alltäglichen Fragen wie etwa jenen der Arbeitsgesetzgebung, des parlamentarischen Budgetrechts (insbesondere im Hinblick auf die Militärausgaben) und nicht zuletzt der Koalitionsfreiheit sowie auch mit der ganz normalen Gewerkschaftsarbeit ja auch wirklich genug zu tun. A propos Militär und Budget: in der Reichstagssitzung vom 4. August 1914 sollte sich dann ja in aller Deutlichkeit zeigen, wie unpatriotisch die Sozis wirklich waren: Nämlich genau gar nicht. ("Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.")
Was die bürgerlichen Parteien im Reichstag natürlich nicht daran hinderte, die Sozis hartnäckig als "vaterlandslose Gesellen" zu diffamieren, die von der Regierungsbildung unbedingt fernzuhalten seien, wenn Deutschland nicht ins Verderben stürzen solle. Dies aber wie gesagt nicht, weil von den braven Sozialdemokraten irgendeine Gefahr für das Reich ausgegangen wäre, sondern einfach deshalb, weil die SPD Bevölkerungsschichten vertrat, die sich nach bürgerlicher Ansicht unter keinen Umständen in die Staatsgeschäfte einzumischen hatten. Das einfache Volk hatte zu gehorchen, das Maul zu halten und bei Bedarf "für Kaiser und Vaterland" in den Krieg zu ziehen. Und sonst nichts.
Und in der Tat: Selbst als die SPD 1912 mit über 30% Stimmanteil die mit Abstand stärkste Partei im Reichstag geworden war hielt die Brandmauer! Die vaterlandslosen Gesellen kamen nicht an die Regierung. Dafür kam dann zwei Jahre später der Weltkrieg, den die SPD größtenteils auch noch brav mitmachte. Und ganz zuletzt kamen die Genossen dann doch noch für einige Jahre an's Ruder, dies aber erst als Europa bereits in Schutt und Asche lag und die Parteien der Brandmauer avant la lettre gründlich abgewirtschaftet hatten...
Es ist unschwer zu übersehen, daß heute die alte Tragödie in neuer Besetzung wieder auf dem Spielplan steht: Der militärisch-industrielle Komplex hat große Pläne, welche noch größere Opfer verlangen. Keine eigenen Opfer, wie sich wohl versteht. Denjenigen wiederum, deren Haut dabei zu Markte getragen werden soll, beginnt in zunehmendem Maße zu dämmern, was sich über da ihren Köpfen zusammenbraut, und sie versuchen sich nach Kräften zu wehren. Aber diese Kräfte sind schwach, sie haben im Grunde nichts auf ihrer Seite als den Buchstaben der Verfassung und (mittlerweile sogar zwei) große aber vollkommen ohnmächtige politische Partien. Gegen sich haben sie: das Kapital, die Massenmedien, die Zivilverwaltung, den Sicherheitsapparat, die Gerichte, das Militär, die EU und die NATO, kurz: die Brandmauer.
Und so, fürchte ich, werden wir über kurz oder lang doch wieder in den Krieg ziehen. Diesmal zur Abwechslung nicht "für Kaiser und Vaterland", auch nicht für "den Führer" sondern für "Diversität", "Inklusion", "Gender", "Klima" und was sonst heute so "Demokratie" heißt. Und natürlich kämpfen wir gegen den leibhaftigen Gottseibeiuns, "gegen Putin", jedenfalls solange unsere schwache und immer schwächer werdende industrielle Basis das noch hergibt.
Und zuletzt, diese Prognose wage ich, kommen die Populisten dann doch noch an's Ruder. Aber natürlich erst nach dem großen Ragnarök, wenn sich dann auf einmal fast alle einig sind, daß der WK-III insgesamt doch keine so gute Idee war...