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  • Leser2015

476 Beiträge seit 19.11.2015

Was genau gilt als Maßnahme und wie lassen sie sich vergleichen?

Ohne jene Studie gelesen zu haben, bezweifle ich als Nichtexperte, dass man so zu statistisch belastbaren Antworten hinsichtlich der Fragestellung kommen kann, ob und wie »staatliche Maßnahmen«, insbesondere »nichtpharmazeutische Interventionen«, zur Eindämmung einer Infektionskrankheit beitragen können. Daneben benötigte man für verschiedene Regionen jeweils gesellschaftliche Bezugspunkte für eine vergleichende Beurteilung der Eingriffsstärke.

Intuitiv ist zu erwarten, dass die hoheitlichen Gewalten mittels gezielter Interventionen Einfluss auf die Übertragungswahrscheinlichkeit eines infektiösen Erregers nehmen können, doch wie genau definiert man dann den Begriff Maßnahme? Rechnet man zu hoheitlichen Interventionen lediglich jede strafbewehrte Verhaltensvorschrift für zumindest Teile der Gesamtbevölkerung hinzu oder auch eine bloße Informationskampagne mit konkreten Verhaltensempfehlungen?

Zur Eindämmung eines gefährlichen Erregers können Nationalstaaten über die Massenmedien allgemeine Verhaltensempfehlungen sowie die Durchführung von Kontaktnachweistests oder das Tragen von Schutzkleidung empfehlen, so geschehen in Westeuropa beispielsweise im Fall der HIV-Pandemie, oder strafbewehrt erzwingen wie vielerorts im Fall der COVID-19-Pandemie.

In beiden Fällen reagierten die meisten Staaten zwar irgendwie, wenn auch sehr unterschiedlich auf eine völlig neue Bedrohung. Lassen sich solche politischen Entscheidungen überhaupt im Sinne der vorgestellten Stanford-Studie vergleichen? Vermutlich nicht, und ganz gewiss nicht hinsichtlich des ausgeübten Zwangs, was dann zur Frage der Verhältnismäßigkeit führen sollte.

Keine Ahnung, ob weltweit vergleichende Studien zur Wirksamkeit der staatlichen Maßnahmen gegen die anfangs ungleich gefährlichere HIV-Pandemie bereits existieren, doch damals galten realsozialistische Zwangsmaßnahmen auf Kosten der individuellen Freiheit als epidemiologisch überlegene Lösung und im Ergebnis der einstige Ostblock im Unterschied zum demokratischen Westen als absolut HIV-frei. Dadurch wurden im Osten zweifellos viele Menschenleben gerettet, während man im Westen auf freiheitliche Werte und Menschenrechte verwies, die trotz eines Bundesseuchengesetzes harten staatlichen Zwangsmaßnahmen prinzipiell im Wege stünden.

Diese ideologische Komponente gab es auch im Rahmen der Maßnahmen zur Eindämmung der weiteren Ausbreitung von COVID-19, doch ganz anders als früher wurde plötzlich die Garantie der Menschenrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit als wichtigste staatliche Aufgabe betrachtet, hinter die angesichts der epidemischen Notlage selbst die Menschenwürdegarantie temporär zurücktreten müsse. Hinsichtlich der Interpretation des Menschenwürdekonzepts fand verfassungsrechtlich ein beispielloser Paradigmenwechsel statt, der in den Massenmedien kaum Beachtung fand, sich jedoch problemlos etwa anhand der Zwangsmaßnahmen in Einrichtungen für Hochbetagte oder der allgegenwärtigen Diskriminierung von Ungeimpften belegen ließe.

Auch die christlichen Kirchen fühlten sich als moralische Instanz plötzlich nicht mehr vor allem der Seelsorge zur Linderung individuellen Leids verpflichtet, sondern neuen sozialen Pflichten gegenüber einem staatlich gesteuerten Prepperkollektiv, und führten dazu selbst Jesus von Nazareth an, der nun angeblich jede staatliche Vorschrift zur Kontaktbeschränkung beachten und sich natürlich impfen ließe; überraschend für jemanden, der entgegen einstiger Normen nicht Teil des Teams Vorsicht war und unvorsichtigerweise gar Aussätzige berührt haben soll.

Der epidemiologische Erfolg staatlicher Interventionen lässt sich eigentlich kaum getrennt vom Menschenbild, dem durchschnittlichen Bildungsniveau oder kulturellen Gewohnheiten einer Gemeinschaft bewerten, denn in wohl jeder Gesellschaft wird hoheitlicher Zwang prinzipiell stärker wirken als bloße Verhaltensempfehlungen für die Bewältigung des Alltags. Doch häufig unterscheiden sich die jeweils betrachteten Gesellschaften voneinander strukturell zu stark, um sie als ausreichend ähnlich einzuordnen, damit überhaupt erst unter dieser methodologischen Voraussetzung das jeweilige Interventionsergebnis als vergleichbar betrachtet werden könnte.

Auch um die Wirkung einer Intervention einschätzen zu können, benötigt man als Bezugspunkt für solch eine Messung die Lebensbedingungen einer Gesellschaft vor der unerwarteten Gefahr. Weitreichende Lockdowns wie im wohlhabenden Europa wären in manch anderer Weltregion kaum durchsetzbar oder könnten mittelbar sogar humanitäre Katastrophen auslösen; auf dem Papier handelte es sich dann zwar um die exakt gleiche staatliche Zwangsmaßnahme, doch die gesamtgesellschaftlichen Folgen der Intervention unterschieden sich viel zu stark, als dass eine Vergleichbarkeit etwaiger Seucheneindämmungserfolge methodologisch zweckmäßig wirkte.

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