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  • Yvonne Grosch

mehr als 1000 Beiträge seit 17.04.2007

Die Telepolis


Sehr geehrter Herr Roetzer!

Eine der Errungenschaften innerhalb von *Telepolis* ist es ja immerhin,
dass der wissenschaftliche Diskurs per E-Mail um vieles vereinfacht
wird. 
Bei der Lektuere Ihrer Publikation "Die Telepolis" von 1997 (es handelt
sich zwar nicht um den hier vorgestellten Text, aber tant pis)
kann ich nun nicht umhin, mich dazu zu aeussern, und zwar kritisch.
Zum einen wuesste ich gerne, was das von Ihnen so gern gebrauchte,
typisch *postmoderne* Woertchen "immersiv" nun eigentlich bedeuten
soll.
- Im Fremdwoerter-Duden werden verschiedene Lesarten aufgelistet, aber
das "Dauerbad als therapeutische Massnahme bei Hautkrankheiten" kann es
ja wohl nicht sein. Ich nehme an, Sie verwenden es in der Bedeutung von
"Inundation" als "voellige Uberflutung des Landes bei Transgression des
Meeres", natuerlich im uebertragenen Sinne. - Naja, auf jeden Fall
fragt
die werte Leserin sich schon, was das soll...

Nachdem Ihr Buch nun ja schon ein paar Jahre aelter ist, werden Sie
inzwischen vielleicht in manchen Dingen Ihre (theoretische) Meinung
geandert haben, wie z.B. bezueglich folgender Aussage:

„Dadurch aber werden diese Gemeinschaften im Kern so instabil und
flüchtig wie die vielen, schnell sich verändernden Outfits
und
Verhaltensweisen der Jugendszene." (S. 164)

Wissen Sie, was mich an solchen pauschalisierenden und voellig
unempirischen Aussagen (siehe dazu z.B. die schon etwas aelteren, aber
nach wie vor aktuellen Untersuchungen von Nicola
Doering, "Einsam am Computer? Sozialpsychologische Aspekte der Usenet
Community" von 1994,
<A
HREF="ftp://ftp.uni-stuttgart.de/pub/doc/networks/misc/einsamkeit-und-u
senet">ftp://ftp.uni-stuttgart.de/pub/doc/networks/misc/einsamkeit-und-
usenet</A>;
"Isolation und Einsamkeit bei Netznutzern? Oeffentliche Diskussion und
empirische Daten" von 1995, an derselben Stelle zu finden) am meisten
aergert? - Dass sie meistens von den selbsternannten Medien-Gurus - wie
z.B. von dem ueberaus, zu optimistischen Howard Rheingold, der alles im
Internet nur tolltolltoll findet - gemacht werden, ohne Ruecksicht auf
bereits existierende, zuhauf vorhande (sozial-) psychologische
Untersuchungen zu nehmen. Das Schlimme ist nur, dass die Mehrheit der
Bevoelkerung, die immer noch nicht "Telepolis" bevoelkert, das glaubt,
und einzig aus dem Grunde, da sie nicht wissen (koennen), wie es
wirklich "zugeht".

Abgesehen davon, dass das konventionelle Emoticon nach links gekippt
dargestellt wird, finde ich auch folgende Aussage von Ihnen als
Sprachwissenschaftlerin, die Netzkommunikation - auch empirisch -
untersucht hat, ebenso vorurteilsbeladen und "sprachbigott":

„Obwohl viele der Netzpioniere, die einst überraschend, aber nur
für
kurze Zeit zu einer Wiederkehr der geschriebenen Sprache beitrugen, die
Einführung der Bilder bedauern, hatte bereits in der schnellen
Netzkommunikation eine Vernachlässigung der Sprache stattgefunden,
wurde
sie möglichst verkürzt und verstümmelt, hat man Icons
wie „) :"
eingeführt, sich auf einen technischen Jargon eingelassen, weil
das
Lesen von Texten am Bildschirm dies erforderlich machte. Fehler oder
schlampige Formulierungen werden häufig übersehen oder gleich
ignoriert." (S. 207f.) 

Sicher orientiert man sich - zumindest in synchroner CMC - an
gesprochener Sprache, aber diese, wie Sie es mehr oder weniger implizit
tun, als "minderwertig" gegenueber der geschriebenen Sprache
abzuwerten,
wuerde sich nicht einmal mehr der reaktionaerste Sprachwissenschaftler
nach ueber 30 Jahren Forschung zu gesprochener Sprache trauen. Und
"Icons" - besser ist "Emoticons" - sind m.E. keine Verstuemmelungen,
sondern kreativer Umgang, sicher auch hochgradig standardisiert, mit
vorhandenen Mitteln unter gegebenen (Medien-) Bedingungen.
Wie dem auch sei, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt scheinen Sie
jedenfalls nicht an synchroner CMC teilgenommen zu haben, sonst wuerden
Sie sich wahrscheinlich nicht derart dazu auessern.

Letzter Kritikpunkt - sonst wird diese Mail zu lange und von Ihnen
womoeglich gar nicht mehr gelesen: Erstaunlich, wie Sie es
fertigbringen, auf ca. 230 Seiten so wenig Essentielles und
Substantielles zu schreiben, obwohl Ihre Ausgangsidee gar nicht einmal
so verkehrt war.
Jedenfalls verschaffte mir diese Lektuere Inundationen in meinem
verlaengerten Zentralnervensystem einschliesslich aller "immersiven"
Synapsen.

Mit freundlichen Gruessen,

Yvonne Grosch

PS: Auf eine Antwort wuerde ich mich selbstverstaendlich freuen, aber
ich kann es Ihnen nicht verdenken, wenn diese ausbleibt.


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