Ansicht umschalten
Avatar von Jens Niestroj
  • Jens Niestroj

131 Beiträge seit 23.07.2023

Hä?

Ich brauche keinen Professor und keine Studien um das Demokratiedefizit (bzw. die Abwesenheit derselben) zu erkennen. Dazu reicht es auch, sich die offiziellen EU Verlautbarungen zu ihrer Verfasstheit anzuschauen.

Zur Bewertung der demokratischen Mitbestimmung im Westen möchte ich insbesondere auf die Funktion der Gesetzgebung in Deutschland und den anderen Staaten der EU verweisen. Diese erfolgt – wie im folgenden dargelegt – faktisch und ausschließlich durch die EU Kommission. Diese unterliegt aber keinerlei demokratischer Kontrolle durch irgendeinem Parlament.
Die EU-Kommissare werden von den Regierungen der EU-Staaten nominiert. Nach der Nominierung befragt das neu gewählte Europäische Parlament die Kandidaten und gibt eine Stellungnahme ab, bei der es die Kommission als Ganze (nicht jedoch einzelne Kommissare) annehmen oder ablehnen kann (das Parlament kann daher entweder alle Kommissare ablehnen oder alle bestätigen!). Ihre Amtszeit entspricht der fünfjährigen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments.
Die EU-Kommission nimmt vor allem Aufgaben der Exekutive wahr und entspricht damit ungefähr der Regierung in einem staatlichen System. Sie hat aber das alleinige Initiativrecht im EU-Gesetzgebungsverfahren. Dies bedeutet, neue EU-Vorgaben, die in nationales Recht umgesetzt werden MÜSSEN, können ALLEINE durch die EU-Kommission vorgegeben werden. Zwar müssen die EU-Vorordnungen durch das Europaparlament bestätigt werden, aber auch hier gilt: entweder Annahme oder Ablehnung, aber keine Möglichkeit der Gestaltung.
Die Kommission wird vom Präsidenten der Europäischen Kommission geleitet, der unter anderem die Ressortverteilung festlegt und auch einzelne Kommissare entlassen kann. Der Präsident der Europäischen Kommission wird jeweils nach der Europawahl vom Europäischen Rat (d.h. von den Regierungschefs der EU-Staaten) mit qualifizierter Mehrheit vorgeschlagen und anschließend vom Europäischen Parlament mit absoluter Mehrheit der Mitglieder gewählt. Nach Art. 17 Abs. 7 EU-Vertrag „berücksichtigt“ der Europäische Rat bei seinem Vorschlag das Ergebnis der Europawahlen. Diese Vorgehensweise hat nichts mit einem souveränen Parlament zu tun, da das EU-Parlament mal wieder nur zustimmen oder ablehnen, niemals aber vorschlagen kann.
Nach der Ernennung der Kommission kann das Europäische Parlament diese jederzeit durch ein mit Zweidrittelmehrheit getroffenes Misstrauensvotum zum Rücktritt zwingen, d.h. eine einfache Mehrheit reicht nicht aus (daher wurde noch NIE eine EU-Kommission abgewählt...). Hinzu kommt, dass das Parlament keine neue Kommission und auch keinen neuen Präsidenten der Kommission vorschlagen kann.
Wie bereits oben erwähnt, hat alleine die EU-Kommission das Recht, EU Gesetze („Richtlinien“) vorzuschlagen und dem Europäischen Parlament (zum Abnicken) zuzusenden. Zur Verabschiedung ungeliebter Richtlinien (die ja ebenfalls in nationales Recht umzusetzen sind) wendet die Kommission oft einen Kniff an: Sie leitet Pakete aus beliebten und unbeliebten Richtlinien an das Parlament. Dies kann dann alle Vorschläge annehmen oder alle ablehnen. Da das Parlament selber keine Vorschläge für Richtlinien einbringen kann, hat das EU-weite Gewetzgebungsverfahren überhaupt nichts mit Demokratie zu tun.
Die Kommission wird von den Regierungen der EU-Mitglieder bestimmt, also direkt auch von unserer Bundesregierung. Mit der EU-Kommission verfügen die Regierungen über ein übernationales Instrument, um national ungeliebte, meist wirtschafts„liberale“ Gesetze über die Kommission umzusetzen. Die nationalen Regierungen waschen ihre Hände in Unschuld, und verweisen auf EU-Richtlinien, die leider, leider in nationales Recht umzusetzen sind. Was häufig genug passiert ist.
Die EU wird daher „über Bande" für die Umsetzung wirtschaftsliberaler Politik der Macht, die national nicht durchsetzbar ist, missbraucht. Dass dies nicht im Interesse der Masse der EU-Bürger ist, dürfte klar sein. Thomas Piketty äußert sich zu dieser Tatsache in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert" wie folgt:

Die politisch Verantwortlichen der größten europäischen Staaten, die per Definition die Hauptverantwortlichen für das Scheitern und den Abgrund sind, der zwischen ihren Reden und ihren Taten gähnt, fahren unterdessen damit fort, sich hinter der Verantwortung anderer Länder und der europäischen Institutionen zu verschanzen.

Bewerten
- +
Ansicht umschalten