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  • Nützy

mehr als 1000 Beiträge seit 11.06.2010

KRITIK: Die stillschweigenden Annahmen der Evolutionstheorie?!

Zitate aus dem Artikel in doppelten quote-Tags:

[...]die Überwindung einer archaischen, an Religion orientierten Weltauffassung hin zur derjenigen der "aufgeklärten" Moderne.

Wenn man das denn als positiv ansieht. Warum eigentlich? Aus rein wissenschaftlich-wertneutraler Sicht gibt es keinen Grund, die "archaische" Weltauffassung für grundsätzlich minderwertig zu halten. Falls wir eben keine bessere Theorie haben, nun?

[...]etwa in Berücksichtigung von Erkenntnissen der evolutionären Entwicklungsbiologie, bzw. der Epigenetik.

Kleiner Einwurf: Es gab im letzten Jahrhundert durchaus eine wissenschaftliche Kontroverse um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Vererbung erworbener Eigenschaften, die heute unter dem Stichwort Epigenetik populärwissenschaftlich propagiert wird.

Es wäre eine Aufgabe für Wissenschaftshistoriker zu eruieren, wie Darwins Haltung zu dieser Frage war. Darwins "Entstehung der Arten" kann übrigens auch jeder selbst lesen.

Auch ist sie Ausdruck eines überzogenen Respekts vor einer Theorie, welche emblematisch für die moderne (Natur-)Wissenschaft steht.

Das mag Propagandistisch im Rahmen der Wissenschaftskommunikation (so heißt es doch heute?) sehr vernünftig sein. Man will den Kreationisten nicht helfen, indem man in der Öffentlichkeit den falschen Eindruck erweckt, dass die Evolution als naturhistorische Tatsache selbst ernsthaft umstritten wäre.

Innerhalb der Wissenschaft scheint mir so eine Scheu völlig unangebracht. Die Mehrheit der Leute nimmt die Fachpublikationen doch eh nicht wahr, selbst wenn dort wenige mathematische Formeln vorkommen. Das übrigens häufig sogar zu recht...

Es muss davon ausgegangen werden, dass das Konzept der Individualität ein Artefakt, bzw. eine Konstruktion sozialer Evolution ist.

Der Absatz ist nicht mal falsch. Richtig ist, ohne ein gewisses Grad an Intelligenz, eine gewisse Auffassung von Individualität usw. könnte man einen einzelnen Vogel gar nicht als Individuum wahrnehmen, sondern als eine Art Manifestation des Konzepts "Vogel" oder dergleichen. Es gibt da eine sehr schöne Aussage über das "Ich-Bewusstsein einer Ameise", ich finde grade die Quelle nicht.

Falsch ist aber, dass die einzelnen Individuen nicht wesentliche Akteure der Evolution sein können. Die Prozesse laufen dann eben ab, ohne dass jemand ein Individuum als solches wahrnimmt.
Dem kann man eigentlich nur widersprechen, wenn man eine idealistische Auffassung verteidigen will.

auch besteht unter Bakterien die Möglichkeit, Gene gewissermaßen direkt ("horizontal"), unabhängig von Reproduktion, auszutauschen.

Das findet meines Wissens nicht nur unter Bakterien statt.

Hier wird der wesentliche Punkt übersehen: Es ist immer noch die einzelne Bakterie, die über ein verändertes Erbgut verfügt und deshalb betrachtet wird.

[...]dessen Zeitdauer mittlerweile auf 3.5 Milliarden Jahre taxiert wird.

Das war damals meines Wissens durchaus nicht bekannt.

Von Evolution kann nur die Rede sein, wenn sich Lebewesen - bei aller Unterschiedlichkeit - in einem Kriterium nicht unterscheiden. Sie müssen unterschiedslos lebendig sein.

Das ist falsch.
Wenn ein Lebewesen durch eine genetische Mutation so auf die Welt kommt, dass es schon vor oder unmittelbar nach der Geburt stirbt, dann handelt es sich dabei sehr wohl ein vorgehen im Rahmen der Evolution.
Der - um die Metapher aufzugreifen - blinde Uhrmacher pickt sich sozusagen unter allen möglichen Wesen die heraus, die überhaupt leben können und entstehen können.

Da Darwin nicht über eine Theorie, oder zumindest Hypothese des Lebendigen verfügte, nimmt das Kriterium der Anpassung in seinem Entwurf eine Doppelrolle ein.

Das ist auch nicht zwingend erforderlich. Die Aussage ist falsch!

Das triviales Beispiel das auch jeder zugeben wird: Das Virus. Viren sind, je nach Definition, keine richtigen Lebewesen. Dennoch durchlaufen diese kleinen Gegenstände offenbar eine Evolution und können sich anpassen.
Prionen wären ein weiteres Beispiel.

Egal, ob man Viren als Lebewesen oder als Gegenstände betrachtet, diese Dinger unterliegen offenbar einer Evolution.

Andere Beispiele wären die Anwendung von evolutionären Modellen auf andere Gebiete, etwa evolutionäre Algorithmen (?) oder Kristallzucht. Wobei ich mir da nicht zu 100% sicher bin.

Einerseits wird Anpassung als Indikator für Lebendigkeit verstanden[...]

Indikator ist es. Aber es ist nicht das einzige Kriterium für ein Lebewesen.

Im Gegensatz zu Darwins methodisch induktiver Vorgehensweise wird derart Erkenntnis deduktiv ermöglicht.

Damit wird aber auch der "wissenschaftstheoretische Rahmen", in dem Darwin gearbeitet hat, der Positivismus des 19. Jahrhunderts, mit entsorgt. Der ging nämlich vom Sammeln von Fakten durch Beobachtung aus oder propagierte öffentlich zumindest, das zu tun. Häufig werden gewisse Vorurteile oder Hypothesen am Anfang gestanden haben.

Das Modell, das man sich quasi die Konsequenzen einer Hypothese anguckt und darüber versucht, sie zu widerlegen - ein Modell übrigens, dem die Praxis der Wissenschaft häufig nicht folgt - ist neueren Datums.

Der Ausgangspunkt vorgeschlagener Deduktion ist hingegen fundamental und kaum anzuzweifeln.

Diese Behauptung ist nun wirklich ein Rückfall. Das wurde schon über sehr viele deduktive Systeme gesagt, das die Grundlagen eben selbstevident sind.

Das heißt, Einflüsse aus der Umwelt von autopoietischen Systeme haben keine informative Wirkung, sondern können nur als Irritationen verarbeitet werden.

Das ist ebenfalls eine bis zu einem gewissen Grade willkürliche Annahme.

Was ist z. B., wenn die Zelle für ihre Selbstorganisation irgendwie auf den PH-Wert des Wassers, das Erdmagnetfeld oder eben die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre Bezug nimmt?
Es wäre durchaus vorstellbar, dass die Umwelt in der Selbstorganisation irgendwie einbezogen wird und meines Wissens ist das ja auch der Grund, warum manche Organismen sich bei bestimmten Bedingungen extrem vermehren usw.usf.

Unangepasste Systeme können schlicht deshalb nicht evolvieren, weil sie nicht lebendig, nicht existent sind.

Erst mal, natürlich gibt es nicht-lebendige Systeme. Zumindest wenn wir hier die Mainstream-Sicht beibehalten.

Was ist mir Viren? Was ist mit Prionen?

Zellteilung führt bei Bakterien gemeinhin zu einer exakten Kopie der Zelle.

Und das ist ein Problem. Weswegen moderne Wissenschaftler davon ausgehen, dass Geschlechter eine evolutionäre Anpassung waren.

Es ist Kommunikation selbst die kommuniziert: Kommunikation setzt Kommunikation voraus, und an Kommunikation kann Kommunikation anschließen.

Ich versuche zu verstehen, ich meine eine vage Ahnung zu bekommen, aber dann, nein, verstehe ich es nicht.

Ja, sogar die Welt selbst kann sich uns als die Summe ihre Atome darbieten.

Ja eben nicht.
Die Atome sind für uns eine bloße Abstraktion. Im realen Leben können wir einzelne Atome nicht unterscheiden.

In Übrigen kann man auch argumentieren, dass nicht die Individuen sozial konstruiert werden, sondern die Gleichheit. Zwei Dinge als gleich zu erkennen, ist nur ein Zeichen dafür, die Unterschiede nicht mehr zu sehen.
Mag sein, dass diese Auffassung falsch und absurd ist, aber der Autor des Artikels müsste das begründen. Er müsste seine Auffassung begründen.

Soziale Systeme sind also offenkundig nicht durch die Form von "Menschen" strukturiert, sondern durch die Form ihrer Handlungserwartungen.

Das ist doch jetzt nur wieder ein Versuch, den methodischen Individualismus aus den Sozialwissenschaften zu entfernen. Natürlich können wir uns Vorstellen, was im Geist (gr. "Psyche", engl. "Mind") eines einzelnen Grenzbeamten vorgegangen sein muss, damals.

nicht durch seine spezifische, physisch-neuronale Disponiertheit als individueller Mensch.

Und die Sozialisation hat nichts mit den Neuronen zu tun?
Wie gesagt, die "Weltauffassung" kann man vertreten, aber dann verpflichtet man sich zur Verteidigung eines Idealismus.

Die Konstruktion von Theorien über Evolution ist eine Errungenschaft, die in sozialer, nicht in biotischer Evolution vorkommt.

Das ist genauso als würde ich sagen, dass das Bedienen eines Schreibprogrammes nichts mit Programmieren zu tun hat. Richtig ist doch, dass das Schreibprogramm programmiert worden sein muss.

Entscheidend für die Entstehung von Arten und Populationen sind deshalb vorliegend systeminterne Modifikationen, das Aufkommen von sexueller Reproduktion im Ökosystem.

Mal ab von den ganzen Systemtheorien und dem schnellen Abgleiten in die Soziologie, das ist vielleicht wirklich etwas, auf das man aufbauen kann.

Darwin selbst hat aber mehr als ein Buch verfasst... ;-)

FAZIT:
Das ist ein von der Thematik her grundsätzlich sehr interessanter Beitrag. Die Art des Textes macht es dem Leser nicht leicht, ihn zu verstehen. Ich hätte mit einer Art spannenden Reportage über die derzeitigen Kontroversen in der Evolutionsbiologie gerechnet. Fehlanzeige.

Ein inhaltliches Problem sehe ich dabei, dass hier die Evolutionstheorie fast sofort auf soziale Systeme, Sprache und Gesellschaften, angewandt werden soll. Ich will hier gar nicht von unerwünschten Assoziationen zum "Sozialdarwinismus" reden.
Man bekommt als Leser zuweilen den Eindruck, dass es eben auch darum geht, unerwünschte Implikationen der Evolutionstheorie auf das Menschenbild abzuwenden, Individualismus, Wettbewerb usw. eben. Man will sozusagen eine sozialistische Perspektive eröffnen. Mag sein, dass ich mich da irre und die Flöhe husten höre.

Dennoch: Darwins Theorie geht gar nicht so weit, auch soziale Strukturen wie menschliche Gesellschaften selbst erklären zu wollen. Wieso das ganze unnötig aufblähen?

Insgesamt ist der Beitrag so gut, dass er eine ausführliche Kritik verdienen würde.

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