Ansicht umschalten
Avatar von FünfVorHalbZwölf
  • FünfVorHalbZwölf

mehr als 1000 Beiträge seit 14.10.2016

Re: Warum ausgerechnet in Stuttgart? Das Naheliegendste:

DLKing schrieb am 23.06.2020 19:48:

FünfVorHalbZwölf schrieb am 23.06.2020 14:04:

DLKing schrieb am 23.06.2020 11:51:

Das finde ich doch etwas weit hergeholt. Normalerweise beteiligen sich nur Menschen an solchen Aktionen, bei denen eine Gefängnisstrafe zu keiner nennenswerten Verschlechterung ihrer Lebenssituation führen würde.

Es fällt mir jetzt schwer, abseits von Wohnungslosen, die irgendwie über den Winter kommen müssen, mir Leute vorzustellen, deren Lebenssituation durch eine Gefängnisstrafe nicht wesentlich verschechtert werden würde.
Von der Hooligan-Szene ist bekannt, dass da nicht nur Subalterne das Prickeln am Wochenende suchen, sondern auch Anwälte, Zahnärzte und Ingenieure dabei sind.
Die hätten durch eine Gefängnisstrafe wesentlich mehr zu verlieren als Wohnungslose, und sie tun's trotzdem und kloppen sich brachialst. Der Reiz des morgenlosen Affektausleben scheint mir da viel mehr im Vordergrund zu stehen, nötigenfalls reisst's dann letztlich ein Staranwalt raus.

Das ist interessant, hast du dich damit näher befasst?

Nein, ich hatte das eher so am Rande registriert; wenn ich mich nicht irre, waren es Artikel nicht mal speziell zur Sozialstruktur der Hool- bzw. Ultraszene (o.k., da fangen die Schwierigkeiten schon an, weil beide Szenen durchaus nicht über einen Kamm zu scheren sind) aus München, Köln und/oder Hannover, in denen am Rande darauf eingegangen wurde. Jetzt eben auf die Schnelle gefunden habe ich habe ich aber relativ aktuell zum Einen nur was aus Berlin, b.z. auch noch, na ja:

https://www.bz-berlin.de/berlin/das-sagt-ein-ermittler-der-die-berliner-hooligan-szene-genau-kennt

„Unter den Berliner und Brandenburger Hooligans sind Rechtsanwälte, Kindergärtner, Selbstständige, es ist wirklich ein Abbild der Gesellschaft.“

Zum Anderen - und schon wegen der Erhebungsmethode bemerkenswert - was aus der Schweiz. Es handelt sich um eine Fragebogenaktion unter Hools (bzw. Ultras) mit ausgeschlagenen Zähnen infolge von Fanprügeleien:

https://www.watson.ch/sport/fussball/371772997-hooligans-unter-der-lupe-fast-jeder-zweite-traegt-mundschutz-jeder-siebte-ist-akademiker

"Jeder Siebte (13 Personen) studiert oder hat einen Uni-Abschluss – ob's daran liegt, dass die höher gebildeten Hooligans lieber bei Umfragen mitmachen?"

Wobei die Einschränkung durchaus Sinn macht und das "Siebtel" etwas relativiert, aber es sind zumindestens auch signifikant nachweislich Höhergebildete dabei.

Also ich habe es nicht und mein Eindruck war bislang, dass es sich hauptsächlich um arbeitslose Jugend ohne Perspektiven handelt. Kann aber natürlich sein, dass ich mich da getäuscht habe.

Darüber stritten sich die Gelehrten schon lange; siehe dort von 2010:

https://monami.hs-mittweida.de/frontdoor/deliver/index/docId/688/file/Analyse_der_Ultra_und_Hooliganszene_im_deutschen_Herrenfussball_unter_Beruecksichtigung_des_Praeventionsaspekts_David_Theis.pdf

"Ein weiteres, großes Streitthema ist in der Literatur der soziale Hintergrund der Hooligans. Das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild von Hooligans, ist das bereits beschriebene des mit Bierflecken übersäten Kuttenfans, der seinem Aus-sehen gemäß aus der Arbeiterklasse stammt. Zwar mag dieses Bild eine krasse Überzeichnung der Wahrheit sein (so arbeiten die Betroffenen selbst auch unter Anderem durch ihren Kleidungsstil daran, dieses Bild zu korrigieren), jedoch ist das, von den Hooligans selbst gezeichnete, Trugbild des gut situierten Durch-schnittsmannes, der ein Doppelleben als Fußballrowdy führt, nicht haltbar. So kommen Lösel, Bliesener, Fischer und Pabst in ihrem Forschungsbericht zu dem Ergebnis, dass viele der Problemfans mit einem problembehafteten familiären Hintergrund zu kämpfen haben und bereits in der Schulzeit durch schlechte No-ten und/oder „dissoziales Verhalten“ auffallen. Diese Entwicklung setze sich meist in den Folgejahren in Form von längerer Arbeitslosigkeit, abgebrochenen Berufsausbildungen oder Drogen- und Alkoholmissbrauch fort. Zwar beruft sich Meier in seinen Ausführungen hauptsächlich auf aus den 80er Jahren stammende Quellen, jedoch ist er sich sicher: „[...]dass die Mehrzahl der Fans (bis zu 80 %) aus Mitgliedern der Handwerker- und Arbeitermilieus zusammengesetzt war und davon ausgegangen wurde, dass in diesen Milieus die Gewalt als Hand-lungsoption eine größere Legiti mität erfährt, als in anderen Milieus.“ Ab-schließend stellt der Bearbeiter hierzu fest: Die Kontroverse um den sozialen Hintergrund der Hooligans dauert zwar weiter an, jedoch scheint sie vor allem von Seiten der C-Fans selbst immer wieder aufs Neue angefacht zu werden. Lei-der stellen die Untersuchungen von Lösel, Bliesener, Fischer und Pabst aus dem Jahre 2001 die stichhaltigste (weil anhand aussagekräftiger Zahlen klar nach-vollziehbare) und neueste Un tersuchung zu dieser Thematik dar, so dass der Be-arbeiter geneigt ist, deren Auffassung/Ergebnissen zu folgen und den vermeint-lich hohen An teil von gut situierten „Normalbürgern “ und gar Studenten oder Akademikern ins Reich der Fabel zu verweisen, auch wenn Pilz weiterhin eine andere Meinung vertritt. Zwar mögen die Mitglieder einer Hooligangruppe aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft stammen, so dass auch z. B. Studenten einen gewissen Anteil der Hooligans ausmachen, jedoch kommt der Bearbeiter zu dem Schluss, dass zwar alle Gesellschafts- und Bildungsschichten vertreten sind, die Arbeiterklasse jedoch weiterhin dominiert. Hierfür spricht (nach Ansicht des Verfassers) auch, dass Pilz, obgleich anderer Auffassung, in der Mitgliedschaft in einer Hooligangemeinschaft (in Anlehnung an Oskar Negt) eine „kulturelle Suchbewegung“ von vorwiegend jungen Menschen sieht, die keinen anderen Weg kennen, sich zu profilieren, als den körperlichen. In Ermangelung eines festen Platzes in der Gesellschaft, sowie der damit einhergehenden Anerkennung und Aufmerksamkeit, bleibe den jungen Hooligans, so Pilz, einzig ihr Körper als „Kapital“. Diese Annahme steht, nach Auffassung des Verfassers, der These von einem großen Prozentsatz an Studenten, Akademikern und Angehörigen der oberen Mittelschicht entgegen, da diesen zumindest die Möglichkeit bliebe, sich z.B. über berufliche Laufbahn, finanziellen Wohlstand oder Bildung zu definieren."

Das wäre ja auch eher Dein Ansatz; der (zugegeben nicht unumstrittene) erwähnte Fanforscher Gunter A. Pilz hingegen vertritt folgende Ansicht:

https://www.sportwiss.uni-hannover.de/fileadmin/sportwiss/Projekte__Forschung_und_Online_/pilz/pil_zuschauerverhalten.pdf

"Entgegen der weit verbreiteten Meinung, bei den Hooligans handelte es sich überwiegend um so genannte Modernisierungsverlierer, also junge Menschen mit schlechten oder gar keinen Schulabschlüssen, geringen Zukunftsperspektiven, sind unter den Hooligans kaum -zumindest nicht überrepräsentiert –Arbeitslose, Jugendliche mit schlechten Schulabschlüssenzu finden. Hooligans rekrutieren sich aus allen Sozialschichten, unter ihnen befinden sich viele Abiturienten, Studenten, Menschen in guten beruflichen Positionen, Akademiker. Hooligans haben entsprechend meist zwei Identitäten: eine bürgerliche Alltagsidentität und eben ihre sub-bzw. jugendkulturelle Hooliganidentität."

Das ist allerdings alles Diskussionsstand von vor 10-20 Jahren, viel Neueres und wissenschaftlich Fundiertes habe ich aber auch nicht gefunden jetzt auf die Schnelle.
Zumindestens die Basler Fragebogenaktion von 2016 scheint meine These aber doch zu untermauern.

Edit: Hier noch was:

https://www.sportbuzzer.de/artikel/hannover-96-ultras-vor-gericht-telefon-von-mutmasslichem-hooligan-angezapft/

Ein Bürokaufmann und ein Azubi dabei.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (24.06.2020 12:07).

Bewerten
- +
Ansicht umschalten