Dass man allen und allem zu misstrauen lernt. Manchmal auch sich selber.
Genau. Das ist der Kern der neoliberalen Krankheit - dass sie die psychische Grundlagen einer Gesellschaft zerstört, dass das Diktums Thatchers, so etwas wie Gesellschaft gebe es gar nicht, zur selbsterfüllenden Prophezeihung wird. Wo es kein Vertrauen mehr gibt, das Misstrauen absolut herrscht, ist keine funktionale Gesellschaft mehr möglich. Willkür wird zum Massstab aller Dinge.
In der Tat ist diese Entwicklung in Lateinamerika besonders weit fortgeschritten. Dort wirken sich primitive Privatmedien noch viel massiver und direkter aus, als im Norden des Doppelkontinentes, wo es noch ein vergleichsweise breite Mittelklasse gibt, die sich nicht ganz so leicht durchkorrumpieren lässt und nostalgisch an gewissen Normen und Regeln festhält.
In den grösseren lateinamerikanischen Staaten haben sich längst die Tronalds durchgesetzt, eine dünne Sucker-Oberschicht, die ultramaterialistisch gesinnt die armen, ignoranten Massen - im Gegensatz zu Asien hat Bildung in Lateinamerika einen nur geringen Stellenwert, sind die Bildungssysteme erbärmlich - gnadenlos für ihre Zwecke instrumentalisiert, bürgerliche Demokratie spielt. Dazu kommt der Narco-Krebs, der mittlerweile bis in den Cono Sur metastasiert hat und die moralische Latte gleichsam unter Null setzt.
Mexiko ist in diesem Verwesungsprozess besonders fortgeschritten, was sich im mexikanischen Filmschaffen gut nachzeichnen lässt. Was Suchsland lobt, ist in Wirklichkeit Ausdruck einer völligen Unfähigkeit, sich über die Verhältnisse zu erheben, ein cineastisches Verschmelzen mit ihnen, ein plattes Duplikat. Entsprechend geht es in diesen Werken hyperbrutal zu, kann man absolut keinem Charakter trauen, setzt sich die noch um einen Tick verschlagenere Gewalt durch.
Suchsland lahmer Versuch, die naheliegende faschistische Interpretation abzuwehren mit dem Hinweis aufs Überleben der Barmherzigen, überzeugt wahrscheinlich nicht einmal ihn selbst. Man weiss, diese Haltung wird sie in dieser Gesellschaft nicht weit bringen.
Und hinter der Rede von dieser "neuen Ordnung" hört und sieht man heute auch: "neue Normalität".
Mit Agamben als Mottogeber war dieser Schlenker zu erwarten. Die Gleichsetzung des Verrottungsprozesses Mexikos mit Pandemie-bedingten Präventivmassnahmen liegt dem Sofa-Theoretiker, der nicht die geringste physische Ahnung davon hat, wie man in einem solchen Land lebt nahe. Bezeichnenderweise ist die mexikanische Regierung eine der wenigen, die das Problem negiert hat weltweit. Nicht viel besser als Bolso hat AMLO die ihm anvertraute Bevölkerung voll ins Messer laufen lassen. Der offiziell knapp Viertelmillion Toten muss man ein Mehrfaches an nicht erfassten C-19-Todesfällen hinzufügen. Die monströse Letalitätsrate von 8,2 Prozent beweist die extreme Unterregistrierung der Fälle.
In Mexiko und auch in seinen Filmen ist stets die Abwesenheit eines funktionalen Staates das Problem und nicht seine erdrückende Präsenz. Suchsland sitzt ganz und gar irrigen Analogien auf. In Mexiko nimmt die Entropie zu, während Empathie nicht einmal mehr Mangelware ist. Das ist vielleicht auch beim Rezensenten ein Problem.