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  • Guckstu

mehr als 1000 Beiträge seit 18.03.2024

Re: "... sicherlich nicht faschistoider, Machtbündelung unter Putin..." lachhaft

tzefix schrieb am 24.04.2024 23:50:

Guckstu schrieb am 23.04.2024 23:48:

tzefix schrieb am 23.04.2024 22:55:

Die Verfolgung und Ermordung von politischen Gegnern ist Dir nicht totalitär genug?

Das ist auch widerlich, aber totalitär ist was anderes.

https://de.wikipedia.org/wiki/Totalitarismus

Totalitarismus bezeichnet ein umstrittenes Konzept politischer Herrschaft mit einem uneingeschränkten Verfügungsanspruch über die Beherrschten, auch über die öffentlich-gesellschaftliche Sphäre hinaus in den persönlichen Bereich.

Ich denke nicht, dass sich Totalitarismus exakt definieren lässt, Grenzen bleiben fließend.

Dennoch ist die Ermordung politischer Gegner definitiv NICHT Totalitarismus.

D.h. Systeme, die ihre Bürger komplett auf eine bestimmte Ideologie einschwören wollen, wie z.B. die Chinesen mit ihrem "ein braver chinesischer Bürger tut dies und jenes (nicht)" oder die Nazis mit "alle haben arische Herrenmenschen zu sein".
In Russland scheint das bisher eher ein Wunschtraum zu sein, umgesetzt wird das nur in Ausbildungsanstalten, die erwachsene Bevölkerung darf weiter motzen und mit der Staatsideologie unzufrieden sein.

Nun, mit "motzen" ist es nicht weit her. Sobald ein "Motzer" als Gefahr für das System erkannt wird, erfolgen Repressionen.

Totalitarismus verlangt die Unterordnung unter die Staatsideologie sogar dann, wenn es gar keine Gefahr fürs System ist.

Die Leute in Russland werden drangsaliert, wenn sie - in absteigender Reihenfolge der Wichtigkeit:
- Gegen den Krieg sind
- Gegen das Militär sind
- Gegen Putin sind
Aber NICHT, wenn sie gegen die Ideologie vom "überlegenen Russen" oder die "Ruski Mir" sind.
Ich sehe auch keine ideologisch motivierte Massenaufmärsche, kein "du musst aber für die Ideologie sein".

Nur ein "du darfst das Herrschaftssystem nicht gefährden".
Das ist autoritär, nicht totalitär.

"Autoritär" ist übrigens tatsächlich so ein Gummibegriff, den mag ich nicht. Den definiert sich jeder zurecht, wie es ihm passt, auch wenn es da so einen Kern von "der Staat setzt seine Vorschriften rücksichtslos durch" gibt, aber jeder Politologe lädt das dann mit seinem eigenen Strauß an Zusatzbedingungen auf und das macht den Begriff dann so beliebig.
Die meisten Politologen scheinen nicht mal klar zwischen Definition und Auswirkungen zu unterscheiden, es wird nicht mal versucht.

Aber "totalitär" und "faschistisch" haben recht klar definierte Kernkonzepte.
Natürlich gibt es Übergangsbereiche, aber da kann man immer noch klar sagen: Diese Gesellschaft ist näher am Idealtypus dran als jene.

Und natürlich gibt es einen Anspruch des russischen Systems bis in den privaten Bereich. So lautet die Forderung der Politik: "Ihr interessiert euch nicht für Politik, dafür lässt euch die Politik in Ruhe und kümmert sich für euch um den ganzen Rest."

Nicht jeder beliebige Anspruch aufs Privatleben ist totalitär.
Sondern der Anspruch aufs Privatleben, die Staatsideologie zu vertreten und z u leben.

"Ihr interessiert euch nicht für Politik" ist geradezu das Gegenteil von totalitär.
Also, im Fall von Russland. Es gab auch totalitäre Gesellschaften, in denen sich der einfache Mensch aus der Politik raushalten sollte, aber trotzdem strikten Sozialvorschriften unterworfen wurde, im europäischen Mittelalter beispielsweise mit seinem christlichen Totalitarismus. Der war allerdings auch eher Idealvorstellung als Realität, die Schäfchen haben ihren Hirten oft genug den Stinkefinger gezeigt... allerdings hat sich das im Lauf der Jahrhunderte tatsächlich nach und nach durchgesetzt, wenn auch nicht für alle Bevölkerungsgruppen.

Dazu ist die russische Gesellschaft durchsetzt von Gewalt. Sozialdarwinismus ist gang und gäbe. Für die, die unter der Gewalt leiden gibt es keine Hilfe. Gewalt in der Ehe ist nicht strafbar. Gewalt an Schulen und Militär wird als Teil der Ausbildung verstanden. Diese Gewaltkultur wird von der Politik gestützt.

Das ist schlimm, aber es ist nicht mal überhaupt eine Herrschaftsform.
Geschweige denn totalitär, faschistisch oder autoritär.

Die Unterdrückung von Minderheiten - seien es die Völker aus der Peripherie, seien es andere Lebensentwürfe oder nur sexuelle Neigungen sind Dir nicht genug?

Hat Ansätze in diese Richtung, ja.
Aber zum Totalitarismus gehört eben mehr.

Das "Mehr" resultiert ja aus der Summe aller anderen hier aufgezählten und nicht aufgezählten Punkte, die den Totalitarismus unterstreichen.

Nein, andersrum: Die allermeisten anderen Punkte, die du nennst, haben entweder gar nichts mit Totalitarismus zu tun, oder sie sind ebenfalls nur schwach ausgeprägt.

Und damit bleibt deine wütende Replik, das "sei mir nicht genug", eben doch widersprochen: Nein, es ist nicht genug.
Nicht diese Unterdrückung für sich allein, wie es deine Formulierung nahelegt, noch in Kombination mit den anderen Merkmalen.

Ein Angriffskrieg mit dem Ziel die "minderwertigen" Kleinrussen zu "echten Russen" zu machen oder auszurotten ist Dir nicht totalitär genug?

Das ist, wenn es ernsthaft durchgesetzt wird, in der Tat totalitär.
Ob sie das auch wirklich hinkriegen, ist eine andere Frage.

Ob sie den Krieg erfolgreich führen oder nicht, ist doch keine Frage ob das System totalitär ist oder nicht. Alleine dass dieser Krieg geführt wird, ist bereits ein Beleg für Totalitarismus.

Nicht, dass der Krieg geführt wird, sondern dass der Krieg damit begründet wird.
Das muss man schon sauber auseinanderhalten.

Man muss auch sauber auseinanderhalten, was Anspruch und was Wirklichkeit ist.
Manche Ansprüche sind das. Die russische Wirklichkeit ist es nicht, und DAS meine ich mit meiner Skepsis, ob sie das auch wirklich hinkriegen. Ich würde eher erwarten, dass das endet wie das "Nation building" im Irak: Hehre Ansprüche, ein paar halbherzige Umsetzungsversuche, die so katastrophal an der Realität scheitern, dass am Ende nur Gewalt übrigbleibt, die eigene und die der Einheimischen. Am Ende womöglich sogar nicht mal eine Herrschaft, sondern Friedhofsruhe - nicht im Irak, aber die Russen sind ja weniger zimperlich und stecken notfalls ganze Völker in "Umerziehungslager".

Gefälschte Wahlen sind nicht totalitär genug?

Nicht totalitär, sondern Wahlfälschung.

So wie in jedem totalitären System.

Ist nicht mal unbedingt notwendig. Das christliche Mittelalter hatte keine Wahlfälschung, weil es keine Wahlen gab. Die Quäker und Mennoniten sind mit ihren strikten Vorschriften ebenfalls totalitär, aber sie haben freie Wahlen: Die Angehörigen der Gemeinschaft haben die Ideologie ja verinnerlicht und es braucht keine Wahlfälschung.

Der andere Einwand: Auch nichttotalitäre Diktaturen arbeiten gern mit Wahlfälschung. Das ist also überhaupt kein Beleg für Totalitarismus.

Langjährige Haftstrafen für "unerwünschte" öffentliche Äußerungen sind nicht totalitär genug?

Kann totalitär sein, kann aber auch einfach nur Repression sein.

Repression ist Teil des totalitären Systems.

Jedes totalitäre System muss repressive sein, aber nicht jedes repressive System muss totalitär sein.
Also: Nein, kein Argument dafür, dass Russland totalitär ist.

Sicher gibt es keine scharfe Grenze, ab wann ein faschistoides System zum faschistischen System wird. Aber in Russland gibt es ausreichend Hinweise, dass diese Grenze bereits überschritten ist.

Nicht, wenn man die Definition des Totalitarismus ernstnimmt.

Wie gesagt, es gibt keine scharfe Grenze, wo man sagen kann, das ist nun totalitär oder nicht.

Das nicht, aber es gibt Systeme, die definitiv nicht totalitär sind.
Und je mehr ich mir anschaue, was du anführst, desto sicherer bin ich mir sogar, dass es in Russland nicht der Fall ist. Putin hätte gern ein totalitäres Russland, aber noch wichtiger ist ihm der Machterhalt und dafür verzichtet er auf die Ideologiedurchsetzung.

Es für die Betroffenen auch nicht wirklich erheblich. Sie reihen sich in die "Jubelperser" ein oder müssen mit Repressionen rechnen. Da unterscheidet sich Russland nicht wesentlich von China.

Das ist natürlich richtig.
Aber für den Getöteten ist es auch unerheblich, ob er ermordet wurde oder verunfallt ist, trotzdem unterscheidet man die Fälle recht scharf. Obgleich es sogar da Grauzonen gibt.

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