tzefix schrieb am 25.04.2024 13:15:
Ich verstehe worauf Du hinaus willst. Du sagst, Totalitarismus ist nur dann gegeben, wenn der Staat seine offen geäußerten Doktrin und Ideologien durch die gesamte Gesellschaft bis in den privatesten Bereich durchwirkt.
Exakt. Das wäre der idealtypische totalitäre Staat.
Ja, stimmt schon, das ist gewissermaßen der "Klassiker". Das ist aber so gut wie kaum mehr gegeben, sehen wir vielleicht von Nordkorea ab.
Also, ich würde ja einen Begriff nicht nur deshalb abändern wollen, weil das niemand mehr macht.
Es gibt beispielsweise keine Feudalstaaten mehr, aber die Historiker wollen den Begriff immer noch, und er taugt auch als Vorbild zum Vergleich mit neuen Herrschaftsformen: Was ist wie damals, was ist anders, wie wirken sich die Unterschiede aus?
Die Einflussnahme totalitärer Systeme geschieht heute doch eher weniger offen und mittels weniger eindeutigen Aussagen.
Na doch, das gibt es durchaus.
Nicht nur Russland und Nordkorea, sondern auch Iran, möglicherweise Saudi-Arabien.
Viel vom Gegenwind gegen Feminismus kommt wohl auch daher, dass er von den Leuten, die das ablehnen, als totalitär empfunden wird: Sie sollen jetzt auch privat Frauen achten, "das geht ja gar nicht". Das wird natürlich nicht in der Öffentlichkeit ausgesprochen, eben weil es allgemein als bäh gilt, aber auch das wird schon als totalitäre Einschränkung empfohlen - jetzt mal völlig davon abgesehen, ob man die Gleichberechtigung für etwas Gutes oder etwas Schlechtes hält.
Ich gehe dagegen nicht davon aus, dass Doktrin und Ideologien offen als "Staatsdoktrin" geäußert werden müssen.
Nein, das nicht, aber das macht es nicht mehr oder weniger totalitär.
Wesentlich ist, dass es Verhaltens- und Denkvorschriften gibt, die durch den Staat durchgesetzt werden. Man kann den Begriff auch auf Situationen übertragen, wo es nicht der Staat ist, sondern eine andere Institution oder einfach durch gesellschaftlichen Konsens; man muss da aber aufpassen, dass man den Begriff nicht so sehr überdehnt, dass die Bedeutung ins Beliebige abdriftet.
Und bei Nichtbeachtung ebenso offen durch die Staatsmacht geahndet werden müssen. Ich sehe den Totalitarismus auch dann gegeben, wenn er verdeckt stattfindet.
Da sind wir uns einig.
Und ich sehe ihn gegeben, wenn sich auch Teile der Gesellschaft sich davon noch frei sieht.
Nur, wenn es eine Illusion ist.
Wenn Gesellschaftsschichten davon frei und unsanktioniert sind, ist der Totalitarismus unvollständig.
Ein totalitäres System kann für mich auch verlangen, dass die Gesellschaft sich explizit aus der Politik heraushalten soll - wie es in Russland gegeben ist. Der Punkt für mich ist nicht das Ziel eines Staates - oder ob das Ziel nun moralisch verwerflich ist oder nicht - sondern bereits die Entmündigung seiner Bürger.
Totalitarismus verlangt, dass alle mitmachen.
Die Bürger ruhigzustellen ist eigentlich das Gegenteil.
Zur Erläuterung vielleicht ein paar Totalitarismus-typische Slogans:
"Alle müssen am gleichen Strick ziehen."
"Einigkeit macht stark."
"Jeder Widerspruch ist Verrat."