Es sei mir gestattet, den Autoren bezüglich einer Aussage seines Textes zu Korrigieren. Er schreibt, dass die Spruchpraxis der deutschen Justiz 2010 anlässlich des Prozesses gegen Demjanuk geändert wurde. Das trifft so nur für die bundesdeutsche Justiz zu. Die DDR hatte für die Verfolgung solcher Straftaten das Statut der Nürnberger Prozesse und die bis dahin vorliegende Rechtssprechung der Alliierten gesetzlich verbindlich zur Grundlage erklärt.
Das ist nicht so simpel, wie es zunächst klingt. Ich habe davon in den 70er in einer Veranstaltung für Jurastudenten erfahren, an der ich zufällig teilnehmen konnte. Ich selbst wurde kein Jurist und daher ist meine Beschreibung für Juristen vermutlich etwas unbeholfen.
Die Alliierten gingen bei den ersten Prozessen gegen Nazi-Verbrecher, die außerhalb der Verantwortung der Deutschen durchgeführt wurden, davon aus, dass es sich um kollektive Verbrechen handelte, die nur deshalb durchgeführt wurden, weil jeder Täter an seinem Platz seinen Tatbeitrag leistete. Der Posten, der die Gefangenen bewachte, der Kraftfahrer, der sie transportierte, der Buchhalter der sie erfasste ebenso wie die Täter, die mordeten und die, die solche Befehle gaben. Unter dieser Voraussetzung wurde zum Beispiel der unter amerikanischer Verantwortung in Dachau stattfindende Buchenwaldprozess geführt.
Als die Verantwortung an die Justiz der beiden deutschen Staaten überging, änderte sich dies in der vom Autoren beschriebenen Weise im Westen, wovon man dann tatsächlich erst abging, als es im Prinzip keine Täter mehr zu verfolgen gab.
Dass der Verfolgungswille der bundesdeutschen Justiz, der einzig wahren, gerechten und anständigen deutschen Justiz, ausgerechnet bei Demjanjuk erwachte und sie zu dem zurückkehrte, was 1946 für Recht erkannt wurde, ist nicht unproblematisch. Der diesbezüglich Artikel ist, erstaunlich für die mittlerweile politisch vollkommen verkommene Wikipedia, sehr gut.
Er wurde für seinen Dienst in einem Vernichtungslager verurteilt, ohne dass ihm selbst eine Teilnahme an Taten nachgewiesen werden konnte. Das ist in dem Kontext, den ich oben beschrieb, nicht unplausibel. Die besten deutschen Richter aller Zeiten schrieben ihm ins Urteil, dass er sich diesem Dienst hätte entziehen, hätte fliehen müssen. Nur, dass er kriegsgefangener sowjetischer Soldat war, die millionenfach ermordet wurden und er nur so potentiell tödlicher Gefangenschaft entkam. Und anders als Deutsche, die sich der Beteiligung am Morden entzogen, wäre er selbst getötet worden. Das dokumentiert der von mir angeführte Wikipediaartikel auch.
Hingegen hat sowohl die historische Forschung der DDR als auch der BRD in seltener Übereinstimmung festgestellt, dass es kein einziges belegtes Beispiel dafür gäbe, dass Deutsche gravierend sanktioniert wurden, wenn sie sich der Beteiligung an Morden oder dem Dienst an den Mordstätten entzogen.
Dies wird die Grundlage für das Verfahren gegen die alte Frau sein müssen. Ob dieses Verfahren zu mehr taugt, als den Beweis der unheimlich guten und gerechten deutschen Justiz zu erbringen, vermag ich nicht zu beurteilen. Die Angeklagte wird sicher nicht im Gefängnis sterben und der Anspruch, jeden Kriegsverbrecher zu sanktionieren, ist richtig. Nur, und da glaube ich dem Autoren, so wie ich ihn verstehe, zustimmen zu können, die Läuterung kommt arg spät und trifft dann den ukrainischen Bauern oder die deutsch Tippse, während ganz andere, Braun wurde im Forum exemplarisch genannt, davon kamen. Und Fischer, Schröder und Oberst, Verzeihung, General Klein müssen auch nicht vor Gericht.
Und weil das hier eh schon zu lang ist und kaum jemand so weit lesen wird: ich war in meinem Leben öfter in der Gedenkstätte Sachsenhausen, einem KZ in Oranienburg am Rande Berlins. Nach der Wende wurde die Dauerausstellung umgestaltet. In einem Regionalblatt las ich in den Neunzigern ein Interview mit einem dafür Verantwortlichen. Ist sehr lange her und ich kann das, weil damals noch auf Papier, nicht nachlesen. Ich denke, dass es darum ging, die Ausstellung von einseitigem kommunistischen Propagandamüll zu befreien. Das hat er bestimmt gut und gründlich gemacht.
Was mich immer beeindruckt hatte, waren kleine Tafeln mit den Namen und Funktionen von SS- Leuten, die im Lager dienten. Dazu stand jeweils ob - meistens gar nicht- und, wenn doch, wie schwer sie sanktioniert wurden.
Dazu war vermerkt, wo sie als rechtschaffene Bürger grad lebten. Ich erinnere mich an einen Lagerarzt, der in Westberlin in den 60ern noch (ich glaube) als Zahnarzt praktizierte. Unbestraft und mit Anschrift der Praxis.
Diese Tafeln fand ich, als ich Mitte der Neunziger noch mal in der Gedenkstätte war, nicht mehr. Vermutlich wegen Datenschutz. Ist ja klar.