Rudolfine schrieb am 02.10.2021 14:25:
Gerechtigkeit besteht nicht unbedingt nur aus Strafe bzw. Strafe ist nicht Voraussetzung für Gerechtigkeit. Auch der Prozess, die Aufklärung und das Finden von schuldigen NS-Verbrechern ist Teil der Herstellung von Gerechtigkeit. Und genau diese Aufgaben hat die Justiz ebenfalls.
Es ist, wie ich bereits schrieb, prinzipiell unmöglich, "Gerechtigkeit" (was auch immer man darunter verstehen mag) herzustellen, wenn das Unrecht oder auch nur seine Folgen nicht mehr nachträglich aus der Welt geschafft werden können.
Mal völlig abseits von den NS-Verbrechen: Wenn irgendwo auf der Welt eine Seilbahn verunglückt oder ein Gebäude oder eine Brücke einstürzen, dann wid immer nach einer "strafrechtlichen Aufarbeitung" gerufen. Häufig findet man dann auch einen Architekten, Konstrukteur oder Techniker, der irgend eine Regel der Technik nicht eingehalten hat, worauf sich das Unglück zurückführen lässt. Die Verletzung dieser Regel der Technik ist strafrechtlich eine Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, was einen Fahrlässigkeitsvorwurf begründet und somit ein Vorgehen gegen den betreffenden Architekten, Konstrukteur oder sonstigen Techniker.
Mein Problem damit ist, dass die Regel der Technik, um die es geht, meist in 1000 Fällen missachtet werden, ohne dass ein Unglück passiert, nur im 1001. Fall passiert es dann. Eine "strafrechtliche Aufarbeitung" ist im Wesentlichen die Feststellung einer individuellen Schuld und die Festsetzung einer sich daraus ergebenden Rechtsfolge. Nur wird in solchen Fällen eigentlich keine individuelle Schuld festgestellt, sondern individuelles Pech des Beschuldigten, dass in seinem Fall noch andere Umstände hinzu getreten sind, die es zum Unglück haben kommen lassen. Aufgrund dieses individuellen Pechs wird dann der Beschuldigte - im Gegensatz zu den 1000 anderen, die den gleichen Fehler wie er gemacht haben - mit einem Schuldvorwurf belastet und bestraft.
Das, was so hochtrabend als "strafrechtliche Aufarbeitung" bezeichnet wird, ist in meinen Augen in der Regel nichts weiter als ein primitives Ritual: Das Blut der Toten verlangt nach einem Opfer, deshalb muss jemand bestraft werden, und zwar auf Teufel komm raus.
Bei den ersten primitiven Hochkulturen hatte man, wenn sich die Täter eines Gewaltverbrechens nicht ermitteln ließ, stellvertretend für den Täter einen Sündenbock in die Wüste getrieben, damit er stellvertretend für den Täter die Schuld sühnen und damit die Gemeinschaft von der Tat reinigen sollte. Damit komme ich zurück zu den heutigen NS-Prozessen: Es ist heute leider so gut wie gar nicht mehr möglich, heute, über 75 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs, Personen vor Gericht zu stellen, die tatsächlich vorsätzlich an vorderster Front an den Verbrechen beteiligt waren - vor der Wiedervereinigung wollte man das sogar ausdrücklich nicht, jetzt sind fast alle Täter tot.
Trotzdem schreit noch heute, über 75 Jahre nach dem teilweisen¹ Untergang des NS-Terrorregimes, das Blut der Ermordeten nach einem Opfer, das ihm bislang vorenthalten wurde. Also greift man sich steinalte Menschen, die zwar irgendwie entfernt beteiligt waren, die aber im Grunde genommen nur stellvertretend für die eigentlichen Täter, eben als Sündenböcke, ihren Kopf herhalten müssen.
Hätte man in Westdeutschland nach dem Krieg die Nazimörder wirklich konsequent verfolgt, dann wäre damals sicher niemand auf die Idee gekommen, eine Sekretärin zu verfolgen - man hätte mit den Haupttätern genug zu tun gehabt. Diese Angeklagte steht heute nur deshalb vor Gericht, um als Sündenbock für das erbärmliche Versagen der westdeutschen Justiz rituell geopfert zu werden.
Auf nichts anderes läuft das, was Du unter "Gerechtigkeit" zu verstehen scheinst, hinaus. Das ist in meinen Augen alles andere als zivilisiert, das ist primitiv und barbarisch.
¹ die alte Bundesrepublik war für mich zu einem guten Teil die Fortsetzung des Dritten Reichs mit anderen Mitteln.