Ich leide selbst seit meiner Kindheit unter sozialen Ängsten und Depressionen und den damit verbundenen sozialen Folgen. Ich habe über mehrere Jahre Erfahrungen mit Psychopharmakotherapie als auch Gesprächstherapien gemacht.
In loser Reihenfolge ein paar subjektive Einschätzungen:
- Das Ausklammern der sozialen Dimension psychischer Beeinträchtigungen die Hr. Schleim anspricht, kann ich bestätigen. Meine eigenen Erfahrungen, aber auch die vieler Mitbetroffener, die ich in Selbsthilfegruppen oder Gruppentherapien kennen gelernt habe, sprechen dafür, dass die Probleme vieler Menschen häufig aus dem gesellschaftlichen Umfeld kommen (oder erst durch dieses therapiebedürftig verstärkt werden). Am häufigsten hängen die Probleme mit den Thema "Arbeit" ( (drohende) Arbeitslosigkeit, schlechte Arbeitsbedingungen, Arbeitsunfähigkeit, Existenzangst, ...) oder dem allgemein kälteren sozialen Klima (Atomisierung der Gesellschaft, fehlende soziale Zusammenhänge) zusammen.
Soziale Probleme lassen sich mit einer Therapie nicht beheben sodass es häufig zu Patientenkarrieren kommt in denen die Leute jahrzehntelang Stabilisierung einer Therapie bedürfen, da die gesellschaftlichen Ursachen nie behoben oder angegangen werden (Wer z.B. Probleme hat eine Arbeit zu finden und deswegen unter Ausgrenzung, mangelnder Teilhabe und Armut leidet, dem helfen weder Tabletten noch Gesprächstherapie weiter)
Ob das vielleicht sogar der beabsichtigte Sinn und Zweck der Therapieverfahren ist, kann ich nicht beurteilen.
Für die Politik ist dieses Verfahren bequem, kann sie doch das eigene Versagen verschleiern: die Menschen sind "krank" nicht die Gesellschaft. Soziale Probleme werden psychopathologisiert.
- Inbesondere bei Beeinträchtigungen durch Depressionen oder Angst werden Psychopharmaka inflationär verschrieben, häufig von nicht dazu ausgebildeten Hausärzten (Meine Hausärztin sagte mir im Vertrauen, dass Sie etwa 20% ihrer Patienten Antidepressiva verschreibt). Die Aufklärung des Patienten über Wirkung, Nebenwirkungen und Abhängigkeit ist oft mangelhaft und dogmatisch. Nebenwirkungen werden vom behandelnden Arzt als solche nicht anerkannt, da sie nicht auf dem Beipackzettel stehen. Hier wirkt sich insbesondere der Fakt fatal aus, dass bei Depressionen und Angststörungen viele Symptome wie Müdigkeit, Lustlosigkeit, Konzentrationsprobleme u.ä. mit den Nebenwirkungen der Psychopharmaka zusammenfallen. Spricht ein Patient das Verbleiben dieser Symptome trotz Medikamenteneinnahme gegenüber dem Arzt an, so folgt dieser häufig dem Grundsatz "viel hilft viel" und erhöht die Dosis obgleich genau das Gegenteil angebracht sein könnte.
Hier spreche ich als selbst Betroffener, der 1.5 Jahre unter schwersten Nebenwirkungen eines Antidepressiva litt, die mich während der Zeit quasi arbeitsunfähig gemacht haben.
Diese Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie enthält viele Belege und Quellen um die Themen Wirkung, Nebenwirkung, Abhängigkeit von Antidepressiva:
https://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/DGSP_FA_Psychopharmaka_Annahmen_und_Fakten_Antidepressiva_2019.pdf
- Soziale Angebote um die Lebensumstände für Betroffene zu verbessern (betreutes Wohnen, Klinikaufenthalte, berufliche Reha) richten sich meistens nur an die schweren Fälle die quasi arbeitsunfähig sind oder ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben können/wollen. Wer nicht ganz gesund aber auch nicht schwer krank ist, berufstätig und ggf. ökonomischen Zwängen ausgesetzt, für den ist es schwierig das Ruder herumzureißen und die Stressbelastung im Leben zu reduzieren. Konkret würde ich mich sehr darüber freuen wenn Teilzeitarbeit häufiger ermöglicht werden würde.