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  • Stephan Schleim

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Schmerzmittel und Lebensphilosophie

knarr schrieb am 10.07.2020 22:43:

Danke für die Veranschaulichung. An Ihrer Stelle hätte ich wohl die Schmerzmittel verdrückt, um die Symptome wenigstens etwas zu lindern, und dafür ein sedierte(re)s Bewusstsein hingenommen…

Das muss jeder für sich selbst entscheiden.

…das passt zu etwas, was mir bei einem vorigen Artikel (über "Krawall in Stuttgart) auffiel, bei den vier Zwecken zur Instrumentalisierung von unscharf voneinander zu trennenden Drogen oder Medikamenten fehlte die Unterdrückung von Schmerzen (oder, läuft das eigentlich unter "Entspannung"?)

Darin stand, meiner Erinnerung nach: abschalten/entspannen. Vielleicht könnte man auch von "dämpfen" sprechen. Ich werde noch einmal darüber nachdenken, finde aber spontan schon, dass das in dieselbe Kategorie passt.

da lag mir das Wortspiel 'ein Schleimianer kennt keinen Schmerz' auf den Fingern, besser wäre wohl im Licht neuer Erkenntnisse, 'ein Schleimianer nimmt keine Schmerzmittel'.

Die Situation war doch so: Der Hausarzt hatte die Gallenblasenentzündung nicht diagnostiziert, weil der Entzündungswert im Blut (= Biomarker) unter der kritischen Schwelle lag. Stattdessen sollte ich wochenlang das Oxycodon nehmen (also genau das Mittel, das in den USA für diese Opioid-Krise verantwortlich ist), bis zur Operation. (Ein Trugschluss übrigens: Wie der Chirurg später sagte, hätte er bei der schweren Entzündung gar nicht operieren können, jedenfalls nicht, ohne das größere Risiko einzugehen, z.B. den Gallengang zu beschädigen.)

Mir war damals klar, aufgrund der veränderten Intensität, des veränderten Orts und weil die Schmerzen gar nicht mehr aufhörten, dass sich im Vergleich zu den Monaten vorher etwas Wesentliches geändert hatte.

Die Tage zuhause waren eine existenzielle Erfahrung, die ich nicht missen möchte und manchmal sogar vermisse. Ich habe gewartet, bis schließlich das Fieber kam. Dann rief ich beim Notdienst an und der bat mich, dort vorbeizukommen. Wie ich das auf dem Fahrrad geschafft habe, mitten in der Nacht, weiß ich heute nicht mehr. Es sind aber auch nur ca. 4km.

Ich kam dann nach der Untersuchung beim Notarzt direkt in die Notaufnahme. Da fragte mich ein Pfleger, wie stark die Schmerzen seien, auf einer Skala von 1 bis 10. Ich antwortete: 9,5. Dann fragte er mich, welche Schmerzmittel ich genommen hätte. "Keine." Da meinte er wütend: "So weit muss man es doch nicht kommen lassen."

Mein Gedanke war aber, wenn die Symptome nicht schlimm genug sind, dann schicken die mich vielleicht wieder, wie der Hausarzt, mit ein paar Tabletten nachhause. Dabei wusste ich einfach, dass etwas wirklich nicht stimmt. Deshalb wollte ich nichts unterdrücken, auch nicht das Fieber.

Die junge Ärztin in der Notaufnahme hat übrigens sofort eine Gallenblasenentzündung diagnostiziert, noch bevor sie die Laborwerte bekam. Ab dem Moment ging es langsam bergauf.

Ich schätze, dass ich sonst ein oder zwei Tage später einfach ins Krankenhaus gegangen wäre und mich dort auf den Boden gelegt hätte o.ä., wenn die nicht nach der Ursache der Schmerzen gesucht hätten.

Vielleicht noch ein philosophischerer Punkt: Mit Schmerzmitteln ändert man i.d.R. nichts an den Ursachen, sondern nur an der Wahrnehmung. Das kann man auch durch gedankliche Übungen, wie z.B. Meditation. Ich habe schon mehrmals gelesen, dass Menschen, die viel meditieren, weniger Schmerzmittel nehmen.

Ich hatte eben auch das Privileg, mich mehrere Wochen krank melden zu können, ohne dass das negative Folgen haben würde. Das kann sich leider nicht jeder erlauben. Da könnte es Gründe geben, doch die Schmerzen zu unterdrücken. (Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, mit einer Gallenblasenentzündung und im Oxycodon-Rausch wirklich sozial funktionieren zu können.)

Ultraschall im freigebohrten Limbus alveolaris erklang und ein Mittel gegen die Entzündung wirken konnte, nach wenigen Tagen war das dann wieder gut.

Ja. Das ist doch wunderbar, dass wir die Mittel haben, so eine Entzündung behandeln zu können! Pennicilin wurde als erstes Antibioticum in den 1940ern in größerem Maßstab angewendet. Man kann sich heute wohl nicht mehr vorstellen, wie das für die Menschen früher war. Vielleicht kommen wir dank multiresistenter Keime irgendwann einmal wieder in diesen Zustand.

ausdrücklich weil diese entzündungshemmend wirken, was mir als prima Argument erscheint doch ruhig einmal temporäre Einbußen des Bewusstsein durch eine leichte Sedierung hinzunehmen.

Man muss es sich auch nicht unnötig schwer machen.

Ich denke für mich persönlich: Man muss es sich auch nicht immer unnötig einfach machen; das sind auch interessante Erfahrungen.

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