Anja Schmittheim schrieb am 22.09.2022 06:51:
Ich verstehe nicht, wieso sich Politiker und Presse so darüber freuen, und es als Zeichen der Schwäche werten, dass Putin jetzt auf mehreren Ebenen eskaliert.
Das Argument: Die russischen Reservisten sind schlechter ausgebildet als reguläre Streitkräfte und könnten deswegen nichts gegen die Ukrainer ausrichten.
Dabei wird völlig ausgeblendet, dass die ukrainischen Streitkräfte größtenteils noch viel schlechter (gar nicht) ausgebildet sind, weil die Ukraine schon seit Monaten nicht nur Reservisten an die Front schickt, sondern praktisch alles, was zwei Hände hat und eine AK-47 halten kann.
Außerdem wird in wenigen Tagen die Annexion der russisch kontrollierten Gebiete über die Bühne sein. Dann kann Russland auch Wehrdienstleistende dort stationieren, die noch zusätzlich zu den 300.000 Reservisten dazukommen. Die werden vermutlich für die Sicherung der Gebiete eingesetzt, während die Reservisten die offensiven Kräfte verstärken werden.
Dass hier eine halbe Million zusätzlicher Soldaten, die größtenteils nicht schlechter, sondern besser ausgebildet sind, als die ukrainischen, auf die Ukraine zurollen, soll ein Zeichen der Schwäche sein? Ich denke eher, dass hier einige Muffensausen bekommen haben.
Ansonsten könnte man doch froh sein, über dieses "Zeichen der Schwäche", und müsste darauf nicht mit neuen Sanktionen und Waffenpaketen reagieren.
Es ist erschreckend, dass viele Mitforisten und wohl auch Regierungen und Medien offenbar glauben, Putin habe keine Eskalationsmöglichkeiten ausser dem Abwerfen von Atombomben auf Berlin, Brüssel und Washington.
Russland hat noch nicht einmal angefangen, Krieg zu führen.
Man braucht sich nur Bilder und Opferzahlen vom Irak, von Syrien, von Afghanistan anschauen, um zu verstehen, was ein richtiger Krieg bedeutet statt einer "Spezialmission" (so haben wir unseren Brunnenbaueinsatz in Afghanistan übrigens auch genannt. Bei dem, was schon verdrängt wurde, die Bundeswehr in einer einzigen Nacht über hundert Zivilisten ermordet hat. Aus Versehen, weil sich ein Oberst bedroht gefühlt hat. Der wurde übrigens nicht nach Den Haag geschickt oder ins Gefängnis, sondern zum General befördert! Whaaboutism, schon klar, wir sind ja die Guten).
Statt sich offen über das "Pech" Russlands zu freuen ob der Explosionen auf der Krim oder dem Untergang des wichtigsten Kriegsschiffes könnte man auch überlegen, dass solche "Unfälle" auch bei Einrichtungen und Ausrüstung von Ländern passieren könnten, die nicht Russland gehören.
Man könnte auch überlegen, dass wir mit unseren Waffenlieferungen und der Ausbildung ukranischer Soldaten einen Präzedenzfall geschaffen haben, den wir noch viele Jahrzehnte bereuen werden. Denn wenn es legitim ist, anderen Länder so gegen "Invasoren" zu unterstützen - warum sollten Russland, China und andere Länder dann nicht Länder aufrüsten und ausbilden, mit denen wir Streit haben? Russland hat 7000 Atomsprengköpfe, Iran hätte gerne ein paar davon. Kuba vielleicht auch, oder Venezuela. Syrien könnte man "Hilfslieferungen" zukommen lassen, damit Präsident Assad die Invasoren aus den USA, der Türkei und Israel vertreiben.
Wollen wir das wirklich risikieren? Und: Was wollen wir damit erreichen? Aktuell will Russland "nur" ehemalige Soldaten mit Kriegserfahrung mobilisieren, 300000. In der nächsten Runde können das auch 3 Millionen werden oder 30 Millionen. Wenn die NATO oder die Experten in Berlin, Brüssel, London oder Washington da ein Szenario sehen, wie die Ukraine Krim und Donbass zuerobern kann, ohne komplett ins Mittelalter zurückgebombt zu werden: Dann mögen sie das bitte vorstellen. Falls es so ein Szenario nicht gibt: Dann ist es allerhöchste Zeit, dem Vorschlag des Herrn Neuber zu folgen und die Rhetorik herunter zu fahren und Wege zu finden, wie das Gemetzel beendet werden kann, bevor auf beiden Seiten 300000 Soldaten in Marsch gesetzt werden, um sich gegenseitig um zu bringen.