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  • hdwinkel

mehr als 1000 Beiträge seit 16.06.2012

Verantwortung vs. Gesinnung

Der IStGH hat Putin angeklagt. Vermutlich zurecht, denn Kindesentführung ist ein schweres Völkerrechtsverbrechen.
Und trotzdem erscheinen mir zwei Punkte hier wichtig:

- Mal abgesehen von einem humanitären Aspekt, Kinder von der Frontlinie zu evakuieren; in den Augen der Russen erobern die da gar nichts in der Ukraine, sondern schützen ihre eigenen Landsleute. Die entführen also keine Ukrainer, also fremde Völker, um sie zu Russen zu machen (was dem Völkerrechtsparagraphen ja als Tatbestand zugrunde liegt), sondern 'bewahren' die 'eigenen, bereits russischen' Kinder vor einer Ukrainisierung.
Das Völkerrecht stößt hier in meinen Augen an Grenzen. Denn es geht ja gar nicht um Völker, sondern ausschließlich um Nationalitäten.
Beide Kriegsparteien, also nicht nur Russland argumentieren aber völkisch. Und dieser Nationalismus hatte bereits zum Bürgerkrieg geführt, den viele nicht einmal als solchen anerkennen.
Der Nationsbuildingprozess scheint zumindest noch gar nicht abgeschlossen. Für die laufende Kontroverse siehe z.B.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ukrainische_Nation
Wie sollte sich der IStGH denn in einer solchen Situation positionieren? M.M. nach ausschließlich am Kindeswohl. Völkische und nationalistische Argumente müssten in den Überlegungen zurückstehen, also ob es ukrainische oder russische Kinder sind.

- Putin ist noch gar nicht verurteilt, sondern es besteht ein begründeter Verdacht, sich des Verbrechens der Kindesentführung schuldig gemacht zu haben.
Selbst jenseits der juristischen Fragestellung, ob das überhaupt stimmt, musste darauf denn mit einem Haftbefehl reagiert werden?
Verbrecher müssen bestraft werden, soweit schon richtig. Nur wurde der Haftbefehl ja mit Gefahr im Verzug begründet und wurde mit der Hoffnung verbunden, diese Kindesverschleppungen würden aufhören oder gar rückgängig gemacht.
Ist das realistisch? Ich glaube nicht. Die Russen fühlen sich nicht schuldig. Nicht weil sie den Völkerrechtsparagraphen als solchen ablehnen, sondern weil sie ihn nicht auf sich selbst anwenden.

Egal ob richtig oder falsch, eine Veränderung des russischen Verhaltens wird es durch den Haftbefehl gegen Putin nicht geben.
Eine mögliche Verhaftung Putins hat dagegen allerdings einen umgekehrten Effekt, nämlich, dass man damit den Krieg gerade nicht verkürzt, sondern eher eskalierend verlängert. Es werden also tendenziell sogar mehr Kinder leiden. Der Haftbefehl mag also formaljuristisch korrekt sein, aber klug ist er nicht. Man erschwert zusätzlich Verhandlungen mit Putin.

Die einen freuen sich, dass der Verbrecher Putin angeklagt wird und glauben als Gesinungsethiker, dass allein ihr Gutsein ausreicht, um irgendwelche Probleme zu lösen.
Diejenigen, die ihre Ethik aus der Verantwortung vor den Folgen ihres Tuns ziehen, sehen m.M. nach diesen Haftbefehl und den Rummel um eine mögliche tatsächliche Verhaftung Putins dagegen eher kritisch, weil der Haftbefehl vieles verschlimmert, ohne irgendetwas zu verbessern, außer ein gutes Gewissen bei manchen zu erzeugen.

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