Ansicht umschalten
Avatar von palette
  • palette

634 Beiträge seit 16.11.2014

Der Zweite Weltkrieg hat unfassbare Schäden angerichtet. In vielfacher Hinsicht.

Wenn man sich bewusst macht, wie die Nazis in den okkupierten Gebieten gewütet haben, welche Verwüstung sie hinterlassen haben -- obwohl, das kann man sich gar nicht so richtig bewusst machen... Das sind wahrlich unfassbare Ausmaße.

Jedenfalls, dass es dermaßen schlimm wird, das hat wohl niemand ahnen können, aber in Moskau wusste man dennoch sehr genau, was sie erwartet...

Und nach der mäßig erfolgreichen NEP, die 1927/28 endgültig gescheitert war, wurde diese bittere Zeit in den 1930ern bewusst in Kauf genommen, um sich auf das, was da kommen wird, vorzubereiten. Stalin hat es im Februar 1931 auf den Punkt gebracht:

"Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder bringen wir das zuwege, oder wir werden zermalmt."

Er hatte sich nur um vier Monate verschätzt...


Der "sinn- und ziellose Terror 37/38" ist bis heute nicht verstanden, aber es ist mittlerweile üblich, es im Sinne Gettys aus den sozialen Dynamiken während der ersten 5-Jahrespläne zu erklären, und nicht mehr als Ausdruck "gestalterischer Politik" Stalins bzw des Politbüros.

Vor zwei Jahren schrieb ich mal hier, und damals hatte ich noch überhaupt keine Ahnung:

Die zunehmenden Repressionen, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1937 und 1938 finden, die sog. Yezhovshchina, stehen im direkten Zusammenhang mit den sozialen Dynamiken, welche durch die forcierte Industrialisierung ab 1929 losgetreten werden.

Dynamiken übrigens, die von den Sowjets erwartet wurden: Man hatte während der 1920er Jahre bewusst auf eine forcierte Industrialisierung verzichtet, weil man wusste, dass diese unvermeidbar mit viel Leid verbunden sein würde. Statt dessen setzte man auf die NEP, die "neue ökonomische Politik".

Und ich hatte wirklich keine Ahnung. Das war nichts weiter als ein "educated guess", eine logische Schlussfolgerung aus Infos zu verwandten Themen.

Erst seit dem Winter 2018/19 hab ich angefangen, mich ernsthaft mit der UdSSR zur Zeit Stalins zu befassen. Die ersten vorläufigen Ergebnisse davon sieht man ja in dem zuvor verlinkten Thread. Unbedingt lesenswert ist auch der Reisebericht von Feuchtwanger:

https://web.archive.org/web/20190720132337/http://ciml.250x.com/archive/literature/german/feuchtwanger/1937_moskau_feuchtwanger.pdf

Das ist zwar von Januar 1937, geschrieben kurz darauf, noch vor dem Terror, aber es gibt einen sehr lebendigen Einblick in die damalige Sowjetunion. Ein einmaliges Zeitzeugnis. Hat man in 4-5 Stunden durchgelesen. Am bemerkenswertesten finde ich seine Schilderung des zweiten Prozesses und wie er Stalin und Trotzki vergleicht.


Jedenfalls muss man sich auch folgendes klar machen:

Beria wird im August 1938 Jeschows Stellvertreter. Drei Monate später, im November 1938, wird Jeschow entmachtet. Beria wird Chef des NKWD, und der Terror hört schagartig auf. Was passiert in diesen drei Monaten? Warum nicht gleich Jeschow durch Beria ersetzen?

Und: Warum stellt niemand diese Fragen...?

In dem zuvor verlinkten Thread ist eine zweiteilige Doku über Beria verlinkt. Sehenswert!


Was ich auch in diesem Thread angesprochen hab, ist Stalins ständige Wiederholung von Lenins berühmten "Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung".

Warum kaute Stalin ständig darauf rum?

Weil er betonen wollte, dass Kommunismus eben NICHT die Herrschaft der Kommunisten meint, oder die Realisierung irgendwelcher ihrer Utopien, sondern eine auf Räten gründende Demokratie mit hohem technologischen Standard.


Ich pflege zu scherzen, dass Kommunisten das größte Hindernis des Kommunismus sind.

Weil sie sich zu ernst nehmen...

Und unterschätzen tat Stalin den unversöhnlichen Hass derjenigen deutschen Kommunisten, welche in KZs, Zuchthäusern und den 999ern den Faschismus knapp lebend entkommen waren, die etliche ihrer Kameraden verloren hatten und nun sahen, wie ihre ehemaligen Peiniger im Westen wieder zu Amt und Würden kamen, ja dass nicht einmal faschistische Todesurteile aufgehoben wurden, Nazi-Urteile gegen deutsche Kommunisten waren selbst zur Zeit der Wiedervereinigung noch gültig!
Für die war eine Zusammenarbeit mit dem braunen Pack 8 Jahre nach dem Ende dieser Barbarei völlig undenkbar.

Ganz ehrlich: Ist das nicht extrem egoistisch?
Diese Leute hatten über das Schicksal von Millionen zu entscheiden!
Und die nehmen ihre privaten Erfahrungen zur Grundlage...?

Ich weiß, dass es zynisch klingt. Aber ich weiß auch, dass ich Recht habe. Leider...

Kann die Stelle grad nicht finden, aber Domenico Losurdo berichtet in "Stalin -- Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende" davon, wie die chinesischen Kommunisten die Sowjets nach Chruschtschows "Geheimrede" fragen, warum sie nichts gegen den "Tyrannen Stalin" unternommen hätten. Diese erwidern, dass sie Angst um ihr Leben gehabt haben. Worauf die Chinesen lapipar antworteten: Was seid ihr für Kommunisten, wenn ihr nicht bereit seid, euer Leben für den Kommunismus zu riskieren?


Die ständige Besserwisserei der Kommunisten, die noch dazu ständig miteinander streiten und einander mit allem möglichen beschuldigen, muss enorm lähmend gewesen sein. Ich kenne das nur in Klein, aus diversen linken Projekten, und jedes Mal, wenn ich mir das in Groß vorgestellt hab, wurd mir Angst und Bange...

Und genau diese Besserwisserei war mit ursächlich für den Terror.
Die Rechten haben die Linken bekämpft, und umgekehrt.
Alle haben sich gegenseitig denunziert.
Es wurde eine Spirale der Gewalt in Gang gesetzt, die niemand kontrollieren konnte.

Da kamen viele Sachen zusammen. Hier ein älterer Kommentar von mir dazu:
https://www.facebook.com/qalette/posts/2208854712705925


Ich glaub, ich sollte aufhören, Kommentare, und stattdessen ein Buch schreiben...

.

Edit: Typos und Stil.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (07.07.2020 17:34).

Bewerten
- +
Ansicht umschalten