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  • Leser2015

477 Beiträge seit 19.11.2015

Re: Probelauf für den Ernstfall

Daniel Unruh schrieb am 29.07.2024 16:43:

Wir hatten Glück, daß die Corona-Pandemie mit rund 16 Millionen Toten relativ glimpflich verlaufen ist. Das ist auch der großartigen Arbeit der Gesundheitsbehörden zu verdanken.

Was wir aber gesehen haben, ist eine schnelle und fruchtbare Koordination zwischen Behörden, überstaatlichen Organisationen und der Presse. Gesundheitsmaßnahmen wurden weltweit koordiniert und umgesetzt. Wichtige Informationen wurden effizient an die Bevölkerung verteilt, und gefährliche Informationen wurden unterdrückt. Der öffentliche Frieden wurde aufrechterhalten.

Wenn die nächste -- gefährlichere -- Pandemie kommt, haben wir ein eingespieltes Team, daß gut aufgestellt ist, um die Herausforderungen zu bewältigen.

Zustimmung zur guten Zusammenfassung des vorherrschenden Narrativs, doch sollte man zur Gefahrenabwehr die Freiheit tatsächlich so umfassend opfern müssen?

Beschrieben wird das Ideal einer totalitären Gesellschaftsform, in der alle gemeinsam gegen einen austauschbaren Feind an einem Strang ziehen und gefährlich Andersdenkende, denen zugleich eine einende Sündenbockfunktion zukommt, zur Wahrung des öffentlichen Friedens stigmatisiert sowie ausgrenzt werden. Zu Pestzeiten betraf dies in manchen Regionen vor allem jüdische Personen in Gestalt des Brunnenvergiftungsvorwurfs, der damals einen ebenso frei erfundenen Verschwörungsmythos darstellte wie Jahrhunderte später die medial vermittelten Narrative zu Maskenlosen oder Ungeimpften.

Um Evidenz geht es bei solchen Schuldzuweisungen niemals, denn bloße Plausibilität reicht für einende Verschwörungstheorien zur Dissonanzreduktion sowie zur Neuinterpretation des Gemeinwohlgedankens vollkommen aus; ratlose Fachleute können der besorgten Bevölkerung plötzlich wieder Erklärungen anbieten, und die vertrauten Grundrechte gelten natürlich weiter wie zuvor, sie sind lediglich, dem aktuellen Übel geschuldet, temporär etwas anders auszulegen. Um diese leider zutiefst menschlichen Reaktionen anzustoßen, muss die wahrgenommene Gefahr die Gesamtgesellschaft betreffen; die häufigsten Auslöser bilden wohl Seuchen oder Kriege im weitesten Sinne, wodurch stets Pogrome an vermeintlich mit dem Feind kollaborierenden Personengruppen begünstigt werden.

So weit kam es im Verlauf der COVID-19-Pandemie zum Glück nicht, aber die reale Gefahr ist in derartigen Fällen ohnehin viel unwichtiger als die wahrgenommene; man denke nur an den historischen Hexenwahn. Umgekehrt war die für die Menschheit seit Jahrhunderten mit Abstand gefährlichste Seuche vermutlich die HIV-Pandemie, mit der man jedoch viel liberaler umging und schließlich zumindest eine therapeutische Zwischenlösung fand.

Für Art und Ausmaß jeglicher Gefahrenabwehr ist zweifellos vor allem die Weltanschauung handlungsleitend. Unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten kommt es auf den, falls überhaupt, später messbaren Erfolg einer x-beliebigen hoheitlichen Maßnahme zur Gefahrenabwehr viel weniger an als auf das Ob oder Warum, und damit auf die einer solchen Entscheidung zugrundeliegende politische oder religiöse Ideologie, die letztlich das jeweils aktuelle Menschenbild einer Gemeinschaft begründet und ausformt. Offensichtlich bestehen hier Unterschiede zwischen den Nationen, wie der unterschiedliche Umgang mit der Pandemie zeigt, etwa in China oder Deutschland im Vergleich zu Schweden oder Japan, obwohl man sicher überall am Gemeinwohl interessiert ist und nirgends Individuen schaden möchte.

Kurz gesagt, eigentlich gehörte der gesamte Umgang mit der Pandemie in den verschiedensten Gesellschaftsbereichen und hier auch der entmenschlichende Kommunikationsstil selbstkritisch auf den Prüfstand, gerade weil die nächste Gefahr irgendwann und von irgendwoher drohen wird. Und sofern eine kritische Aufarbeitung der Pandemiezeit nicht zuletzt auf einen gesamtgesellschaftlichen Konsens hinsichtlich des verhältnismäßigen Umgangs mit künftigen Gefahren abzielen sollte, muss diese Debatte auch das einer liberalen Demokratie zugrundeliegende Menschenbild thematisieren. Wer gefährdet wann andere Personen?

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