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  • R. Winkler

179 Beiträge seit 26.10.2020

Altersungebundene "Kinderkrankheiten"

Ja, die Diffamierungskampagnen gegen Sarah Wagenknecht in Teilen der LINKEN sind unerträglich. Aber macht es Sinn, hier die persönliche Ebene mit der politischen zu vermischen?

Gewiss, es ist abwegig und einfach übel, Wagenknecht als Rassistin zu beschimpfen. Andererseits: muss man alles, was nicht auf ihrer Linie liegt, gleich als Verrat an linken Positionen schmähen?

Da fällt (u.a.) die Verwendung einiger Zitate von Rackete im vorliegenden Artikel doch auf:

- "Wie schaffen wir es, gesellschaftlich die Klimakrise irgendwo noch abzumildern. Diese Dringlichkeit muss immer ganz vorne stehen"

Nicht alleine „ganz vorne stehen“, ok. Aber steht Rackete damit gegen ein entschiedenes Engagement für soziale Rechte? Gerade für Linke ist dies Klimafrage prioritär, und zwar, weil deren Bearbeitung nur gegen kapitalistische Strukturen geht. Die Darstellung dieses systemischen Aspektes müsste der entscheidende theoretische Beitrag der LINKEN zu diesem Thema sein.

- "das Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt, lebensfähige Ökosysteme und ein stabiles Erdklima".

Auch damit sollten Linke keine Probleme mit haben!

- „die Lösung durch ein Verändern der Machtverhältnisse herbeiführen", gegen die Konzerne vorgehen und "Lobby-Einfluss abbauen".

Das ist doch exakt der richtige linke(!) Ansatz: das Hinterfragen von Konzern-Macht! Die „Klimalobby“ ist auch Lobby? Klar, aber da würde ich mal genau hinschauen, wer sich bei dieser „Lobby“ inzwischen prominent findet: RWE, EON usw.! Und so sieht Klimapolitik aktuell aus: Es wird gemacht, was Rendite bringt, der Rest ist „GRÜNE Kür“ – falls im Haushalt noch was übrig bleibt. Sozialer Ausgleich geht den Bach herunter, Artenschutz etc. ebenso.

- es gebe für sie vor allem "einen entscheidenden Unterschied": Die Grünen trieben sehr stark eine "grüne Wachstumslogik" voran.

So ist es: Viel billige Energie und seltene Erden für das Wachstum. „Wachstum“ bringt Kohle! Kann man täglich nachlesen bei Habeck und den Unternehmerverbänden. Ist nicht gerade Kapitalismus das „Betriebssystem“ der Wachstumsfixierung? Sollten Linke da nicht eigene Prioritäten setzen?

- „Ähnlich wie Friedrich Merz und Markus Söder sagt die Führung der Linkspartei mit der Wahl für Rackete: Unser Hauptgegner sind die Grünen.“

„Hauptgegner“? Wenn man sich die Mühe macht, das mal nach Themen zu sortieren: kann dies für bestimmte Fragen nicht durchaus zutreffen?
Jedenfalls beim Thema Waffenlieferungen fällt da das Ranking schon schwer inzwischen.

Aber grundsätzlich:

Welche politisch-strategische(!) Bedeutung haben die abhängig Beschäftigten (und Nichtbeschäftigten!) heute für die Linke? Zweifellos eine ganz zentrale!

Um mal Marx ins Spiel zu bringen: für ihn war die Arbeiterklasse für eine antikapitalistische Politik nicht wichtig, weil man sich um sie „kümmern“ und als Wahlvolk gewinnen müsse – er war ja nicht bei der Caritas – sondern weil sie aufgrund ihrer Interessenlage und Mächtigkeit einen Gegenpol bildete. Das ist linker(!) Maßstab. Hier muss eine Politik der „Selbstermächtigung“ ansetzen.

Ob es „diese“ Arbeiterklasse so noch gibt, ist zunächst eine Frage der Definition. Geht man aber davon aus (wofür es gewiss gute Gründe gibt), wird man erhebliche Veränderungen zu konstatieren haben, und zwar hinsichtlich ihrer wirtschaftlich-strukturellen Lage und ihrer Geschlossenheit, ebenso hinsichtlich der Erfahrungshorizonte ihrer Mitglieder und ihrer Selbstverständnisse, aber auch bezüglich ihrer Relevanz in ihrer (objektiven) Opposition zum Kapital.

Mit romantischen Träumen im Blick auf frühere Zeiten sollte man sich da nicht zu lange aufhalten. Schon aufgrund der völlig veränderten gesellschaftlichen Kommunikationsbedingungen, die heute stärker und effektiver von Kapitalinteressen beherrscht werden als je zuvor, werden sich ehemalige Milieus wohl nicht mehr einstellen. Da könnten die LINKEN noch so oft erklären: wir kümmern uns vor Allem und zu Allererst um euch! Das löst das Problem nicht, man muss hier strategisch schon etwas nachjustieren. Auch der „Wagenknechtflügel“ könnte da noch „nachbessern“!

Was den „Anti-Wagenknechtflügel“ betrifft: Ja, es ist richtig, die Solidarität mit Migranten und Frauen und die Klimafrage etc. auch in den Mittelpunkt zu rücken. Aber die insbesondere mit der sozialen Frage unmittelbar verbundene Kritik des sog. „Marktsystems“ hat eine andere, grundlegendere Qualität als die Frage: was nehmen wir uns denn nun zuerst vor? Wer das vergisst, mag zwar gleichwohl sozial, emanzipiert und edel sein – links ist er nicht.
Hier geht es nicht um ein Ranking gleichwertiger Forderungen – dass je nach kultureller Konjunkturlage ausgewechselt wird, sondern um die systemische Frage nach der ökonomisch-politischen Grundausrichtung einer Gesellschaft. Links heißt vor allem – und politisch grundlegend: kapitalismuskritisch.

Schade, dass in der aktuellen Diskussion analytisch-dialektische Ansätze so sehr in Vergessenheit geraten sind – mit deren Hilfe würde eine Verständigung vielleicht leichter fallen?

Das eigentliche Versagen der LINKEN ist nicht, dass sie sich zwischen sozialer Interessenpolitik einerseits und der Solidarität für kulturell Benachteiligte bzw. Klimaaktivisten etc. andererseits nicht entschieden hat, sondern dass es ihr nicht gelingt, diese Positionen mit einem kapitalismuskritischen Konzept politisch zu verbinden und zu kommunizieren.

Bei der vorhanden Streit-Unkultur war das aber auch nicht zu erwarten. Bestimmte „Kinderkrankheiten“ wird die Linke wohl nie los?

- „Es scheint eindeutig: Die aus dem Anti-Wagenknecht-Lager stammende Parteiführung hat die Spitzenkandidatin Rackete vor allem auch durchgedrückt, um eine endgültige Entscheidung im Machtkampf gegen Wagenknecht herbeizuführen.“

Ja, das könnte der Hintergrund sein. Schade für Wagenknecht, für Rackete und für die LINKE.

Nun, dass Sarah Wagenknecht zu den Rechten abgedriftete Menschen „zurückholen“ möchte, ist ehrenwert. Aber wie lange werden diese ihr in einer neu gegründeten Partei folgen, ohne diese wiederum nach Rechts zu drängen? Wie will Wagenknecht das verhindern? Jedenfalls sehe ich dazu noch keine Antwort.

Und was eine LINKE ohne den „Wagenknecht-Flügel“ noch bewirken soll, sehe ich schon gar nicht.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (19.08.2023 15:36).

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