Und wieder selektive Wahrnehmung

Es erstaunt den politisch interessierten Zeitgenossen stets aufs Neue, wie selektiv Wahrnehmungen sein können. Der auf privater Ebene verständliche Zug wird inakzeptabel, wenn Angehörige des Hochschulbetriebs der „Vergesslichkeit“ anheimfallen. Zur Erinnerung: Die Auflösung der Sowjetunion bedeutete einen riesigen staatlichen territorialen sowie strategischen Verlust an Einfluss, den die damalige Führung in Moskau kampflos und ohne militärische Interventionen hinnahm. Rund 25 Millionen Russen fanden sich „über Nacht“ in einem anderen Land wieder - häufig als Bürger zweiter Klasse. Aus der Geschichte sind keine Parallelen bekannt, dass eine (einstige) Großmacht ihren Niedergang derart „widerspruchslos“ akzeptierte. Es ist deshalb reine Chuzpe, wenn der gelahrte Hochschulprofessor jetzt Russland unterstellt, die territoriale Integrität von Staaten infrage zu stellen.
Das hat der Wertwesten selber und ausgesprochen gründlich getan: mit der Herauslösung des Kosovo aus Jugoslawien, mit der Besetzung nördlichen syrischen Territoriums durch die USA, mit der Bombardierung Iraks erst durch die „Achse des Guten“, dann auch durch die Türkei im „Alleingang“. Seit 1974 ist Zypern nach einer militärischen Intervention Ankaras geteilt. Man wüsste gern vom Herrn Professor, warum das keine Infragestellung staatlichen Integrität war/ist. Seit 1981 sind die syrischen Golanhöhen von Israel annektiert - ein klarer Fall von Bruch des Völkerrechts; trotz mehrerer entsprechender UN-Resolution hält Israel palästinensisches Gebiet besetzt. Warum lässt der Westen hier andere Maßstäbe gelten? 1982 führte das Nato-Mitglied Großbritannien einen nichterklärten Krieg gegen Argentinien - um ein paar Inseln - mehrere zehntausend Kilometer von London entfernt. Der damaligen britischen Premierministerin waren dafür die mehreren Hundert Toten auf beiden Seiten nicht zu schade. Gefeiert wurde das Ereignis weiland wie ein Sieg über Außerirdische. Warum konzidierte die Nato London nationale Interessen im Südatlantik, Russland aber nicht einmal in unmittelbarer Nähe der eigenen Grenze? Herr Professor, wir sind gespannt auf Ihre Ausführungen.