Hier mal meine subjektiven Überlegungen: nahezu alle jetzt wahlberechtigten "Ossis" haben das Wahlsystem unter dem Vorgänger-Regime aktiv miterlebt und/oder sind in der Nach-Wende-Zeit mit den Erzählungen von undemokratischen Wahlen aufgewachsen. Vereinfacht dargestellt war das Wahlsystem vor allem deshalb undemokratisch, weil nur die SED bzw. die in einem ideologisch gleichgeschalteten Block zusammengefassten anderen Parteien wählbar waren. Wer abwich, dem drohten "Sanktionen" (Stichwort: Stasi).
Schauen wir auf die heutige Situation: die großen (= im Bundestag vertretenen Parteien) geben sich die größte Mühe ihre Unterschiede hervorzuheben. Dennoch entsteht häufig der Eindruck, das es bei nahezu allen großen Parteien kaum mehr nennenswerte Unterschiede gibt. Dies kann Assoziationen zu einem Block-Parteien-Wahlsystem hervor rufen, das man ja gerade erst überwunden glaubte. In dem Moment, wo ein Mensch sich in einem (Wahl-)System wieder findet, welches seinem demokratischen Empfinden zu wider läuft, wird er sich wehren. In der DDR mündete es in einer friedlichen Revolution; jetzt antworten (noch) viele mit dem Wählen einer Partei, die sich vermeintlich außerhalb des Blocks befindet. Zunächst war es die Linke. Nachdem diese sich zunehmend der "Mitte" (oder eben dem gefühlten Block) annähert, erfüllt sie diese Funktion zunehmend weniger. Und wird durch die AfD ausgetauscht.
Protestwahl, weil ein "Einfach immer weiter so" zunehmend weniger ertragbar erscheint. Und dabei ist es relativ unerheblich, ob die gewählte Protestpartei tatsächlich bessere Lösungen parat hat. Es geht vordergründig zunächst nur darum zum Ausdruck zu bringen, dass sich etwas ändern soll. Und ja, in diesem Sinne sind "die Ossis" deutlich extremer: sie sind auf Grund der Erfahrungen mit der DDR in Verbindung mit der (gefühlten oder tatsächlichen?) "Schlechter-Behandlung" (z.B. schlechterer Arbeitsmarkt, geringere Löhne, seltener in Führungspositionen u.ä.) besonders sensibel für Dinge, die sich in eine ungünstige Richtung entwickeln.
Ob die Lösung, die AfD zu wählen, dabei besonders schlau, hilfreich und/oder zielführend ist, will ich an dieser Stelle nicht kommentieren.
Ergänzung: Wenig hilfreich dürfte es aber sein, wenn die großen Parteien der Mitte ein Bild vermitteln, in dem die Randparteien (egal ob nun die Linke oder die AfD) per se gefährliche, undemokratische Extremisten sind. Das Verständnis Vieler geht wohl eher in die Richtung "solang die erlaubt sind, sind die auch demokratisch". Versucht man nun aus der Mitte (des Blocks?) diese Sichtweise mit sehr einfach gestrickten "Argumenten" (wer die wählt ist doof, Kommunist, Faschist, Querdenker, Reichsbürger, links-grün versiffter Öko-Spinner, verfassungsschutzrelevanter Delegitimierer u.ä.) zu untergraben, so darf man sich nicht wundern, wenn man das Bild eines Block-Parteien-Systems eher stärkt, indem man Erinnerungen an die Folgen bei "nicht-linientreuer" Wahl in der DDR hervorruft (Stichwort: Stasi).
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (24.09.2021 10:45).