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  • Irwisch

mehr als 1000 Beiträge seit 22.03.2005

Re: Defätismus ist doch keine Option. :p

exkoelner schrieb am 01.02.2021 13:07:

Was ich interessant finde, man kann Menschen mit dem fast identischem zu völlig unterschiedlichen Entwicklungen befördern. Wenn man als junger Mensch die bedingungslose Liebe der Eltern und deren Unterstützung erfährt, sich seinen eigenen Weg zu suchen, sich selbst zu entwickeln, kann das zu starken Individuen mit angstfreier Lust auf Leben führen. Macht man aber das in Abhängigkeit von der Befolgung von ritualisierten Regeln, also man unterstützt schon, aber nicht bedingungslos, sondern nur geknüpft an Vorgaben, wenn/dann, erzeugt man relativ sicher fast das exakte Gegenteil - einen lebenslang unsicheren, von der Meinung und dem Zuspruch anderer, abhängigen Menschen.

Nur so ein Gedanke, by the way, als ich deine Posts las ...

Finde ich auch interessant, und ich vermag es auch einigermaßen verständlich zu erklären:

Wenn Eltern ihren Kleinkindern die Zuwendung entziehen oder auch nur damit drohen – das kann schon ein wiederholt mißmutiges Gesicht der Mutter sein, wenn das Baby was von ihr benötigt –, suchen die kleinen, noch nicht des Denkens und Abwägens fähigen Menschen quasi die Schuld bei sich: »Ich bin nicht richtig, mit mir stimmt was nicht, ich muß mich anders verhalten, sonst liebt Mama mich nicht.« Natürlich denken die Kleinen das nicht, aber sie fühlen so, und dann spalten sie die Anteile ihres Selbst, die diese unerwünschten Bedürfnisse signalisieren, ab – zuerst nur zeitweise in Form von Verdrängung, bei wiederholter Traumatisierung (Entwicklungstrauma) auf Dauer. Diese abgespaltenen Selbstanteile können sich nun, da sie nicht mehr im Bewußtsein des Kleinen erscheinen, nicht weiterentwickeln und bleiben auch beim späteren Erwachsenen auf einem kümmerlichen Niveau.

Was sich auf jeden Fall nur rudimentär entwickelt, ist das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, denn die wird Kindern von den Eltern gewöhnlich ausgeredet. Eltern fühlen sich ihren Kindern meist haushoch überlegen, daher kann das, was vom Kind kommt, nicht wirklich relevant sein. Ohne Vertrauen in die eigene Wahrnehmung entwickeln sich Menschen in Unsicherheit und Zweifel, und weil das nicht gut auszuhalten ist, suchen sie Sicherheit durch Gehorsam: »Wenn ich gehorche, dann ist mir die Zuwendung und Liebe der Eltern sicher, dann sind sie nicht böse auf mich, dann muß ich keine Angst haben.« Doch Gehorsam ist immer die Unterwerfung unter den Willen eines anderen, und das spüren kleine Kinder noch sehr genau; später trauen sie sich nicht mehr, ihre Zweifel an den Befehlen auszudrücken oder verdrängen alle Zweifel an die Allmacht und das Wohlwollen der Eltern bzw. spalten sie ab. So erzieht man Untertanen, und das schon seit Jahrtausenden.

Die charakterliche Ähnlichkeit, die man häufig zwischen Eltern und Kindern vorfindet, ist nicht genetisch bedingt, sondern anerzogen. Kinder müssen so werden, wie die Eltern sie haben wollen. Ich weiß noch sehr genau, daß meine Eltern es nicht ertragen konnten, daß ich, ihr Erstgeborener, durch die Schule und durch Lesen weitaus mehr wußte als sie. Mein Vater versuchte mir immer wieder das, was ich in der Schule z.B. über Mathe lernte, auszureden, meine Mutter arbeitete sich an meinen geschichtlichen, sozial- und erdkundlichen Kenntnissen ab. Auch meine Fähigkeiten, Kontakt mit anderen Menschen herzustellen, wurden regelmäßig erschüttert. So erhielt ich eines Tages in der achten Hauptschulklasse die Gelegenheit, einem Mädchen aus der dritten Klasse Nachhilfe in einfachstem Rechnen (Dreisatz, Bruchrechnen etc.) zu erteilen. Von deren Mutter erhielt ich jedesmal 20 D-Mark, das war für mich sehr viel Geld. Als meine Mutter bemerkte, daß ich Geld hatte, war ihr erster Gedanke, ich hätte ihr das aus dem Geldbeutel gestohlen, und ohne abzuwarten, erhielt ich dafür sofort ein paar heftige Backpfeifen. Nachdem ich erklärt hatte, wo das Geld her kam, verbot sie mir bei Androhung von Prügelstrafe, dort noch einmal hinzugehen: »Dafür bist du zu blöde, da gehst du nicht mehr hin! Hast du mich verstanden?!?« Natürlich wußte meine Mutter, daß ich nicht zu blöde war, aber sie hatte, wie ich heute weiß, Angst davor, daß ich der anderen Familie berichten könnte, was bei uns so alles abgeht.

Nachdem ich der Mutter der Kleinen erklärt hatte, daß und warum ich nicht mehr kommen dürfe, und dabei noch hoffte, sie würde vielleicht was unternehmen, wurde ich sehr enttäuscht: Die Frau fand das zwar saublöd, aber sie wollte sich nicht einmischen und war auch nicht bereit, mich dennoch weiter unterrichten zu lassen. Wahrscheinlich hat sie auch gedacht, daß sie mit solchem Gesocks nichts zu tun haben wolle. Ich hatte nämlich den starken Eindruck, die Leute können mich nun nicht mehr leiden, nachdem sie mitgekriegt hatten, wie ich lebte und aufwuchs.

Ich brauchte, nachdem ich von diesen Leuten, die doch eigentlich meine Familie sein sollten, weggegangen war, gut 20 Jahre, um das alles aufzuarbeiten, die regelmäßigen Prügel, die Demütigungen und die eingebleute Überzeugung, nichts wert zu sein. Ich habe nie eine Psychotherapie gemacht, und ich habe damals auch nie versucht, meine seelischen Defizite zu überspielen oder sie zu leugnen, mich also irgendwie den Erfordernissen der Gesellschaft anzupassen. Das hat mich letzten Endes davor bewahrt, für den Rest meines Lebens ein zutiefst gespaltener Mensch zu werden und zu bleiben. Heute weiß ich natürlich viel mehr darüber als damals, aber diese Erfahrungen haben mich überhaupt erst dazu gebracht, in diese abgrundtiefen Leeren genauer hineinzusehen und zu erkennen, daß ich nicht der einzige bin, dem es so oder ähnlich ergangen ist. Vor allem habe ich letztlich davon profitiert, daß meine Eltern doch ziemlich dumm waren in ihrer Methodenwahl und meist haushoch übertrieben mit ihren Strafen und den Rechtfertigungen dafür. Daß sie logen und selbst schwer gestört waren, hatte ich schon sehr früh erkannt, allein ich konnte mich diesem Milieu erst entziehen, als ich volljährig war, und da bin ich dann auch sofort gegangen. Intelligentere Eltern richten bei ihren Kindern meiner Einschätzung nach viel mehr seelischen Schaden an, denn sie gehen geschickter vor, riskieren nicht, daß sie von ihren Kindern abgelehnt werden, arbeiten mehr mit Zuckerbrot als mit der Peitsche und »verführen« ihre Kinder erfolgreich dazu, alles abzuspalten, was in der Gesellschaft nicht erwünscht ist. Das sind dann die überangepaßten Zeitgenossen, die niemals auch nur den Hauch eines Zweifels daran verschwenden, daß mit der Gesellschaft einiges nicht stimmen kann ...

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