demon driver schrieb am 05.06.2016 17:10:
Sein konkretes Verhalten diktieren ihm nur nicht die Evolution und die Gene, sondern seine Vernunft, auf der Basis einer Analyse der vorgefundenen Umstände und wahrgenommenen Handlungsoptionen.
So stellst du dir das vor: Der Mensch analysiert kühl und vernünftig seine Handlungsoptionen und wählt dann kraft seines freien Willens die beste aus. Abgesehen davon, dass niemand dazu berufen ist, zu beurteilen, welche denn nun die beste / vernünftigste ist: Es läuft nicht so. Es kann gar nicht so laufen, weil es einen freien Willen (im strengen Sinne) nicht gibt und auch nicht geben kann. Denn das würde bedeuten, dass sich das Kausalitätsprinzip außer Kraft setzen lässt, und das schafft nicht mal David Copperfield. Ein wirklich freier Wille würde voraussetzen, dass ein Mensch unter exakt gleichen Bedingungen zu verschiedenen Entscheidungen gelangen kann. Es führte also A in dem einen Fall zu B, in dem anderen zu C. Und das halte ich für abenteuerlich.
Der Mensch ist nicht von der Natur entkoppelt. Von seinem engsten noch lebenden Verwandten trennt ihn genetisch nur ein klitzekleiner Teil. Seine Kulturleistungen, die er aufgrund seines Gehirns vollbracht hat, mögen beeindruckend sein und den Schluss nahelegen, er könne grundsätzliche Beschränkungen, denen alles Leben unterworfen ist, entfliehen. Das ist ein Irrtum, ein gefährlicher Irrtum, weil es regelmäßig zu grundfalschen Diagnosen führt.
Nehmen wir uns mal eine großartige Kulturleistung her: Musik. Tonale Musik - ganz egal ob Klassik, Pop, oder sonstwas - basiert immer auf dem Wechsel zwischen Spannung und Entspannung. "Schöne Musik" finden wir deshalb schön, weil sie sehr viel Unschönes enthält, nämlich Spannungsklänge, die auf mehr oder weniger kreative Weise aufgelöst werden. Das Spiel kann man sehr weit treiben und ausdifferenzieren, auf unglaublich vielfältige Art und über alle Maßen faszinierend, aber grundsätzlich funktioniert tonale Musik nur auf Basis des Prinzips "Wohl und Wehe" - die Grundlage jeder Bedeutungszuschreibung (wie es der Philosoph Michael Schmidt-Salomon einmal treffend ausdrückte). Womit wir wieder bei dem Grundthema wären, mit dem sich alles Leben auf dieser Erde befasst.
So weit, so richtig. Es bleibt dennoch dabei, dass immer nur ein paar Profiteure die entscheidenden Entwicklungen angestoßen haben, was gar nichts mit "Verschwörung" zu tun hat. Die von den Entwicklungen betroffenen Bevölkerungen hatten nichts zu melden.
Der Kapitalismus lebt davon, dass Investoren ("ein paar Profiteure" von mir aus) ihr Geld in Kapital verwandeln, indem sie es in Technik stecken, die die Produktivität erhöht, also zu mehr Effizienz führt. Anders ausgedrückt: Pro Arbeitskraft wird mehr hergestellt. Die Investoren tun das, um hinterher mehr herauszubekommen und nicht, weil sie auf Technik stehen. Klar. Andererseits kann Kapitalismus nur funktionieren, wenn die Massenproduktion auch ihre Abnehmer findet. Dass der moderne Kapitalismus - entgegen der Prognose von Marx - nun schon über 200 Jahre auf dem Buckel hat, liegt an der segensreichen Erfindung von Gewerkschaften, Arbeitnehmerrechten und Sozialgesetzen.
Hätte kein Mensch erfunden?
Einen solch ungeheuren dynamischen Selbstläufer? Das ist schwer zu glauben. Und der Kapitalismus ist ja tatsächlich auch nicht auf dem Reißbrett entstanden, sondern auf einen historischen Zufall zurückzuführen. Dabei wollten die Engländer nicht die Produktivität erhöhen, der Effizienzgedanke - heute selbstverständlich - war damals gänzlich unbekannt. Es ging nur darum, eine Möglichkeit zu finden, trotz hoher Löhne konkurrenzfähig zu bleiben. Da verfiel man auf die Idee, Arbeiter durch Maschinen zu ersetzen...
Der Mensch hat allein in den letzten hundert Jahren weit mehr erfunden.
Ja, im Kapitalismus.
Glück, Massenwohlstand?
Sag mal, geht's noch?
Ist dir der brutale Unterschied zwischen einer stagnierenden Wirtschaft, wie es sie bis zum Ausbruch des Kapitalismus gab, und einer Wachstumswirtschaft überhaupt klar? Vor dem Kapitalismus wurde geschuftet bis zum Umkippen, und es reichte zum Leben gerade so. Jetzt hast du eine Arbeit, die dich nicht schon mit Mitte 30 zum Wrack werden lässt, immer zu essen, Freizeit, eine medizinische Rumdumversorgung (auf einem unvergleichlich hohen Niveau) und ein Smartphone. Das es nur geben kann, weil in den letzten 30 Jahren Investoren immer wieder in die Entwicklung schnellerer Prozessoren und leistungsfähigerer Speicherchips investiert haben.
Zwei Drittel der Menschheit haben kaum Anlass, dieses tolle System als ihr "Glück" zu empfinden,
Das ist richtig, es ist aber kein systemisches Problem. Kapitalismus braucht Wachstum, aber nicht zwingend Kriege oder die Ausbeutung von Menschen in anderen Ländern.
und selbst in den höchstentwickelten Ländern verliert es die Eigenschaft, "Massenwohlstand" für die Bevölkerungen zu produzieren, seit mehreren Jahrzehnten zusehends.
Auch das ist kein systembedingtes Problem. Neoliberalismus ist eben ziemlich blöde, eine Torheit geradezu. Ursache dafür ist eine verrückte Marktgläubigkeit, die Politiker und Wähler zu teilen scheinen. Ursache für die Marktgläubigkeit ist ein falsches, wenn auch schmeichelhaftes Menschenbild in Kombination mit einer falschen Einschätzung unseres Wirtschaftssystems. Den Markt, wo alle fair mit Karotten und Tomaten handeln, haben wir hier nicht, sondern Kapitalismus - was ganz anderes. Einem Markt kann jede Liberalisierung nur guttun, sicherlich. Der Kapitalismus braucht aber genau das Gegenteil: sehr stramme Zügel, damit er nicht implodiert!
Dabei sind seine grundlegenden Webfehler spätestens seit Ende des 19. Jahrhundert weitgehend erforscht und bekannt. Die heute noch zu leugnen, wo sie sich gerade in den "reichen" Regionen der Welt immer deutlicher bemerkbar machen, ist wirklich nur albern.
Es kann keine Webfehler geben, weil niemals gewoben wurde. Und wenn man so einen Kracher wie den Kapitalismus einfach so laufen lässt und Eingriffe sogar für schädlich hält, kann es nur zu schweren Problemen kommen. Aber erklär das mal den Wählern von CDU, CSU, SPD, Grünen und AfD. Besonders schlimm ist die Linke: Sahra Wagenknecht glaubt allen Ernstes, man müsste "wieder" zur Marktwirtschaft "zurück". O Gott! Es war schon vor 200 Jahren Kapitalismus! Man muss sich doch nur mal die größten DAX-Konzerne anschauen, die kommen fast alle aus dem 19. Jahrhundert!