wunschname schrieb am 05.06.2016 16:02:
[Evolution]
Was gerade auch die soziale Interaktion betrifft: Wer ist ein gefährlicher Konkurrent, wer kann mir nützlich sein, mit wem kann oder muss ich kooperieren, wen kann ich gefahrlos übers Ohr hauen, wem muss ich mich unterordnen, und so weiter. Und das ist im Grunde immer noch das, was die Menschen auch heute antreibt.
Sein konkretes Verhalten diktieren ihm nur nicht die Evolution und die Gene, sondern seine Vernunft, auf der Basis einer Analyse der vorgefundenen Umstände und wahrgenommenen Handlungsoptionen. Dass die Fähigkeit dazu durch Evolution entstanden ist, ist so banal wie irrelevant. Und die Gestaltung seiner vorzufindenden Umstände und Handlungsoptionen hat er prinzipiell selbst in der Hand.
Und der eigentliche Witz ist, dafür braucht es eben keinen "neuen Menschen". Es ist derselbe alte homo sapiens, der nur andere Rahmenbedingungen bräuchte, als er sie im Kapitalismus vorfindet. Welcher ja auch nicht durch "Evolution" entstanden ist, als eine quasi zum Menschen gehörende Eigenschaft, sondern historisch und mehr oder weniger zufällig durch das fortwährende Aufzwingen von Seiten der jeweils mächtigen Minderheiten, die von den jeweiligen historischen Rahmenbedingungen "zufällig" am meisten profitierten.
Der Kapitalismus ist ein historischer Zufall, aber auch evolutionäre Prozesse sind das. Es ist eine Riesenüberraschung, dass es uns Menschen gibt. Wäre irgendwo mal gerade das Klima etwas anders gewesen oder wären irgendwo ein paar Vulkane ausgebrochen oder sonstwas... die Evolution hätte eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Genau so eine Riesenüberraschung ist der Kapitalismus. Er ist nicht das Produkt einer Verschwörung verschlagener Bösewichte, sondern entstand zufällig in England. Die Löhne waren dort doppelt so hoch wie auf dem Kontinent, Englands Textilproduktion war nicht mehr konkurrenzfähig. Da kamen findige Bastler auf die Idee, Webstühle zu mechanisieren. Damit kam der Stein ins Rollen und verselbständigte sich rasch.
So weit, so richtig. Es bleibt dennoch dabei, dass immer nur ein paar Profiteure die entscheidenden Entwicklungen angestoßen haben, was gar nichts mit "Verschwörung" zu tun hat. Die von den Entwicklungen betroffenen Bevölkerungen hatten nichts zu melden. Die Geschichte kann man übrigens getrost im Frühkapitalismus beginnen lassen, als die Patrizier das Heft in der Hand hielten und die Entwicklung bestimmten.
Wenn es überhaupt ein System gibt, das unser Leben bestimmt und "natürlich" gewachsen ist, dann ist es der Kapitalismus.
Selbst wenn man das konstatieren wollte oder könnte, und letztlich ließe sich alles, was der Mensch macht, als "natürlich" bezeichnen, für die Diskussion ist das nicht von Belang. Zumal "natürlich" grundsätzlich nicht "gut" heißt. Was den Mensch erst zum Menschen macht, ist ja vielmehr gerade die Überwindung "natürlicher" Zumutungen durch die Kultur.
Und wir haben Glück, das wir in ihm leben. Denn ein System, das menschlichen Eigennutz in Massenwohlstand verwandelt, hätte kein Mensch erfunden.
Und hier hört die sachliche Auseinandersetzung auf, und es beginnt die reine Ideologie mit ihren dämlichen Glaubenssätzen, die auf bloßer Behauptung beruhen und jeder Realität spotten. Hätte kein Mensch erfunden? Der Mensch hat allein in den letzten hundert Jahren weit mehr erfunden. Glück, Massenwohlstand? Zwei Drittel der Menschheit haben kaum Anlass, dieses tolle System als ihr "Glück" zu empfinden, und selbst in den höchstentwickelten Ländern verliert es die Eigenschaft, "Massenwohlstand" für die Bevölkerungen zu produzieren, seit mehreren Jahrzehnten zusehends. Dabei sind seine grundlegenden Webfehler spätestens seit Ende des 19. Jahrhundert weitgehend erforscht und bekannt. Die heute noch zu leugnen, wo sie sich gerade in den "reichen" Regionen der Welt immer deutlicher bemerkbar machen, ist wirklich nur albern.