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  • wunschname

800 Beiträge seit 09.10.2015

Re: "was die Evolution dem Menschen mitgegeben hat"

demon driver schrieb am 05.06.2016 11:14:

Ein Gesellschaftssystem, das für individuellen Erfolg ein erfolgreiches Konkurrenzverhalten verlangt, produziert tendenziell eigennützig agierende Menschen (interessanterweise engagieren sich selbst im Kapitalismus außerhalb der Sphäre, die eine Durchsetzung in der Konkurrenz erfordert, Menschen massenhaft ehrenamtlich für andere). Ein Gesellschaftssystem, in dem nicht Konkurrenzverhalten, sondern erfolgreiches Kooperationsverhalten zum individuellen Erfolg führte, würde dementsprechend tendenziell auch eher nicht-egoistisch ausgerichtete Menschen produzieren.

Der zentrale Punkt ist aber auch nach deiner Sicht der Dinge der "individuelle Erfolg". So nennst du das, was ich als "Eigennutz" bezeichne. Eines muss man sich dabei immer klarmachen: Die natürliche Selektion ist genauso blind für Gefühle wie ein Küchensieb. "Erfolgreich" sind Individuen, die überleben; und überleben tun diejenigen, die genug zu fressen finden, sich Fressfeinde überwiegend erfolgreich vom Leibe halten. Letztendlich geht es dabei darum, beim Kampf um die von der Sonne bereitgestellten Energie einen guten oder wenigstens auskömmlichen Platz zu erwischen. Die Gene, die das Überleben bislang ermöglichten, werden dann weitergegeben.

Die Strategien, die angewendet werden, sind faszinierend vielfältig, sollten aber nicht den Blick darauf versperren, dass es bei dem "Spiel" nur um den Eigennutz gehen kann und sonst um garnix. Denn das "Sieb" ist der Sensenmann, und der steht recht bald vor der Tür, wenn ein Lebewesen nicht ständig seiner "Aufgabe" nachkommt, seine Umwelt auf Nützliches abzuchecken und Gefahren rechtzeitig zu entkommen.

Aus diesem sinnlosen, gefühllosen und gnadenlosen Mechanismus sind auch wir Menschen hervorgegangen. Auch unsere Gene konnten nur bis heute überleben, weil sie die Ausbildung von Verhaltensmustern steuern, die auf Eigennutz hin ausgerichtet sind. Man sollte nicht den Fehler machen und von den beeindruckenden Kulturleistungen des Menschen auf seine "Bestimmung" oder genauer, auf den "Zweck" seines Prachtstücks, des Gehirns, zu schließen. Das Gehirn verbraucht sehr viel Energie, und Energieverbrauch bestraft die natürliche Selektion sofort, wenn ihm kein mindestens äquivalenter Nutzen gegenübersteht. Der Selektionsdruck, der das Gehirn unserer Vorfahren immer größer werden ließ, bestand darin, Chancen und Gefahren immer besser einschätzen zu können. Was gerade auch die soziale Interaktion betrifft: Wer ist ein gefährlicher Konkurrent, wer kann mir nützlich sein, mit wem kann oder muss ich kooperieren, wen kann ich gefahrlos übers Ohr hauen, wem muss ich mich unterordnen, und so weiter. Und das ist im Grunde immer noch das, was die Menschen auch heute antreibt.

Und der eigentliche Witz ist, dafür braucht es eben keinen "neuen Menschen". Es ist derselbe alte homo sapiens, der nur andere Rahmenbedingungen bräuchte, als er sie im Kapitalismus vorfindet. Welcher ja auch nicht durch "Evolution" entstanden ist, als eine quasi zum Menschen gehörende Eigenschaft, sondern historisch und mehr oder weniger zufällig durch das fortwährende Aufzwingen von Seiten der jeweils mächtigen Minderheiten, die von den jeweiligen historischen Rahmenbedingungen "zufällig" am meisten profitierten.

Der Kapitalismus ist ein historischer Zufall, aber auch evolutionäre Prozesse sind das. Es ist eine Riesenüberraschung, dass es uns Menschen gibt. Wäre irgendwo mal gerade das Klima etwas anders gewesen oder wären irgendwo ein paar Vulkane ausgebrochen oder sonstwas... die Evolution hätte eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Genau so eine Riesenüberraschung ist der Kapitalismus. Er ist nicht das Produkt einer Verschwörung verschlagener Bösewichte, sondern entstand zufällig in England. Die Löhne waren dort doppelt so hoch wie auf dem Kontinent, Englands Textilproduktion war nicht mehr konkurrenzfähig. Da kamen findige Bastler auf die Idee, Webstühle zu mechanisieren. Damit kam der Stein ins Rollen und verselbständigte sich rasch. Wenn es überhaupt ein System gibt, das unser Leben bestimmt und "natürlich" gewachsen ist, dann ist es der Kapitalismus.

Und wir haben Glück, das wir in ihm leben. Denn ein System, das menschlichen Eigennutz in Massenwohlstand verwandelt, hätte kein Mensch erfunden.

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