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  • demon driver

mehr als 1000 Beiträge seit 25.02.2000

"was die Evolution dem Menschen mitgegeben hat"

wunschname schrieb am 04.06.2016 19:24:

[...] Der Autor wollte damit sagen, dass weder Marktwirtschaft noch Fairness noch Nettigkeit noch Goodwill die wahren Treiber sind, sondern das, was die Evolution dem Menschen mitgegeben hat: Teilen, Tauschen, gegenseitige Gefälligkeiten, "Connections" und, ganz platt, hierarchische Dominanz. Das war im Feudalismus so und ist auch heute noch so, im Kapitalismus. Nur hat der Kapitalismus den schlagenden Vorteil, dass er Eigennutz in Massenwohlstand verwandeln kann und sogar muss, um zu überleben; und dieser Wohlstand ist erst die Grundlage für Demokratie und Rechtsstaat.

Ach, herrje, jetzt krieg ich den längsten roten Balken, den dieses Forum je gesehen hat.

Das offensichtlich nicht (auch von mir nicht, wegen der zivilisierten und sachlichen Argumentation), trotzdem ist ja genau diese Kernbehauptung des Artikels falsch und ihr zentraler Fehler, auch indem sie darüber dem herrschenden Wirtschaftssystem komplett die Eigenschaft abzusprechen versucht, zentrale, unabänderliche Rahmenbedingungen für die individuellen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu setzen und für deren Gestaltungsspielräume. Dabei liegt genau darin die Ursache für die immer weiter zunehmenden Probleme mit diesen Lebensbedingungen, nicht am Einzelnen, der an den Rahmenbedingungen nämlich nichts ändern kann, auch wenn er sich auf den Kopf stellt und mit den Zehen wackelt.

Wer sich auch nur ein bisschen mit der humanwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte befasst hätte, und einem Autor eines solchen Artikels wäre das dringend anzuraten gewesen, müsste wissen, dass der inzwischen auch von den Neurowissenschaften mehrfach bestätigte Stand der Wissenschaft ist, dass Eigennutz und Altruismus, Konkurrenzverhalten und Kooperationsverhalten im Menschen gleichermaßen angelegt sind.

Eine "egoistische menschliche Natur" ist demnach genausowenig determiniert wie eine altruistische, kooperative – in welcher Richtung sich das ausbildet, entscheiden Sozialisation und Umwelt, einschließlich der Rahmenbedingungen des herrschenden Gesellschafts- und Wirtschaftssystems.

Ein Gesellschaftssystem, das für individuellen Erfolg ein erfolgreiches Konkurrenzverhalten verlangt, produziert tendenziell eigennützig agierende Menschen (interessanterweise engagieren sich selbst im Kapitalismus außerhalb der Sphäre, die eine Durchsetzung in der Konkurrenz erfordert, Menschen massenhaft ehrenamtlich für andere). Ein Gesellschaftssystem, in dem nicht Konkurrenzverhalten, sondern erfolgreiches Kooperationsverhalten zum individuellen Erfolg führte, würde dementsprechend tendenziell auch eher nicht-egoistisch ausgerichtete Menschen produzieren.

Und der eigentliche Witz ist, dafür braucht es eben keinen "neuen Menschen". Es ist derselbe alte homo sapiens, der nur andere Rahmenbedingungen bräuchte, als er sie im Kapitalismus vorfindet. Welcher ja auch nicht durch "Evolution" entstanden ist, als eine quasi zum Menschen gehörende Eigenschaft, sondern historisch und mehr oder weniger zufällig durch das fortwährende Aufzwingen von Seiten der jeweils mächtigen Minderheiten, die von den jeweiligen historischen Rahmenbedingungen "zufällig" am meisten profitierten.

Die Rahmenbedingungen des Kapitalismus sind für den Menschen nicht artgerecht. Und sie werden es auch nicht durch individuelle Anstrengungen einzelner Vertreter der Art, wie der Artikel zu insinuieren versucht.

Cheers,
d. d.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (05.06.2016 11:20).

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