Mein Blick in die Glaskugel

„Wer Wagenknecht von links kritisiert, kann zumindest nichts dagegen haben, dass sie nach einer baldigen und sauberen Trennung der AfD Stimmen streitig macht – sofern sie sich darauf beschränkt, den Teil der "Protestwähler" aufzufangen, die die AfD nur trotz und nicht wegen ihres Rassismus gewählt haben. Ansonsten müsste sich Wagenknecht selbst weiter nach rechts entwickeln, um mithalten zu können.“

Und das wird sie tun. Sie tut es seit mehr als zehn Jahren: seit sie Oskar Lafontaine und Ludwig Erhard für sich entdeckte. Warum sollte sie ausgerechnet dann damit aufhören, wenn sie endlich den eigenen Verein hat, der vor ihr kuscht? Sie kann gar nicht anders, denn sie steckt in der Radikalisierungsfalle des Populismus, aus der es kein Zurück gibt. Es geht nur noch weiter, noch schriller, noch skrupelloser – erst recht, wenn man einer anderen Populistentruppe Konkurrenz machen will.

Die „saubere Trennung“ ist übrigens eine köstliche Vorstellung für alle, die wissen, wie diese Truppe kübeln kann – von Krämer bis Ulrich, von Dehm bis de Masi, von Ernst bis Dağdelen. Vom halbgöttlichen Ehepaar an der Spitze nicht zu reden.

Oder meint die Autorin mit der sauberen Trennung eine inhaltlich klare Trennung nach dem Prinzip „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“? Auch das ist illusorisch. Die LINKE besteht ja nicht aus zwei klar voneinander geschiedenen Lagern, zwischen denen sich Niemandsland erstreckt. Sie verkörpert ein Kontinuum von Standpunkten, das sich bei jedem Streitthema anders aufteilt: Manche, die über Wagenknechts „Corona-Skepsis“ den Kopf schüttelten, sind wieder ganz bei ihr, wenn es gilt, die USA zum Hauptverantwortlichen für den Ukraine-Krieg zu machen oder „die Deindustrialisierung Deutschlands zu stoppen“. Andere, die Wagenknechts Äußerungen zu Migration, Minderheitenrechten und „Sozialer Marktwirtschaft“ gar nicht so schlimm fanden, haben wegen Corona oder wegen des Ukraine-Kriegs mit ihr gebrochen. Es gab von Anfang an mehrere Sollbruchstellen in der Partei, und an welcher der Bruch erfolgt, war schon bisher oft überraschend und wird es auch in Zukunft sein.