Quelle: Die Sendung "Titel Thesen Temperamente" vom 18. August 2013
Die Sendung wurde mittlerweile aus der Mediathek (http://mediathek.daserste.de/sendungen_a-z/431902_ttt-titel-thesen-temperamente/16561338_-die-sendung-vom-18-august-2013-)
genommen, der Begleittext mit dem Zitat findet sich noch auf archive.org:
https://web.archive.org/web/20130821043419/http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/hr/sendung_vom_18082013-102.html
Snowden - ein Held?
Es geht um die Grundfesten unserer Demokratie - Hans Magnus Enzensberger und Frank Schirrmacher melden sich zu Wort
Es ist kein Science-Fiction-Film: Wir werden beobachtet, unsere Interessen und Kontakte bis ins Detail gescannt und ausgewertet. Alles, was wir im Netz tun, was wir kaufen, mit wem wir chatten und sogar wie wir das machen. Supermärkte gehen dazu über, uns mit Kameras zu beobachten, unseren Gesichtsausdruck, unsere Stimmung festzuhalten, um dann sekundenschnell das passende Angebot auf’s Handy zu schicken. Schokolade? Beobachtung total. Banken könnten unsere Kreditwürdigkeit an unserem Facebook-Profil ablesen, Krankenkassen höhere Gebühren verlangen, weil sie in unserem Bewegungsprofil gesehen haben, dass wir zu wenig schlafen, ungesund essen und zu wenig laufen. Der Mensch wird zur Konsummaschine, sein Verhalten ausrechenbar. Der Journalist Frank Schirrmacher nennt das die vollkommene „Ökonomisierung unseres Denkens und Fühlens“.
Das ist "Big Data" – alles über alle - gewonnen und genutzt von Großkonzernen wie Google und Amazon. Informationsökonomie, erdacht zur Profitmaximierung - und verwertet zur Kontrolle durch die Geheimdienste. Dank Edward Snowden wissen wir das. Staatliche Überwachungsdienste und mächtige Weltunternehmen in beängstigender Allianz. "Diese Partnerschaft bildet ein politisches Paralleluniversum, in dem die Demokratie keine Rolle mehr spielt", sagt kein Geringerer als Hans Magnus Enzensberger. In "ttt" meldet er sich zu Wort. Die Demokratie hätten wir bereits verlassen, sagt er. Und: "Wir leben in einem postdemokratischen System", dessen Ziel die totale Kontrolle der Bevölkerung sei.
"ttt" fragt Hans Magnus Enzensberger und Frank Schirrmacher: Sollten wir Edward Snowden als Helden der Demokratie feiern?
Autor: Ulf Kalkreuth
Text des Beitrags:
Zehn Wochen sind vergangen, seit Edward Snowden eingeladen hat zum Tag der offenen Tür bei den weltgrößten Geheimdiensten. Ein Platz in den Geschichtsbüchern ist ihm sicher. Nur welcher? Für Hans Magnus Enzensberger ist die Sache eindeutig.
Hans Magnus Enzensberger:
"Solche Leute sind wahrscheinlich die Helden des 21. Jahrhunderts, würde ich mal sagen."
Er hat sein Leben riskiert, um seinem Land und den westlichen Demokratien zu zeigen, was schief läuft. Durch seine Enthüllungen wissen wir jetzt, was wir ahnten: Die machen wirklich Kopien von uns allen – es gibt tatsächlich eine Matrix. Der Publizist Frank Schirrmacher sieht die Demokratie in ihren Grundfesten bedroht.
Hans Magnus Enzensberger:
"Wir sind in einem System, wo das geheime Wissen fast größer zu sein scheint, als das öffentliche Wissen – und das im Internet-Zeitalter."
Enzensberger meldet sich zu Wort, weil die Regierung den Wandel, der unsere Gesellschaft radikal verändern wird, gar nicht erkennt. Er sagt: Geheimdienste und Gigantenunternehmen wie Google haben sich von der Demokratie bereits verabschiedet:
Hans Magnus Enzensberger: "In jeder Verfassung der Welt steht ja ein Recht auf Privatsphäre, Unverletzlichkeit der Wohnung und so weiter... das sind ja lange Passagen. Das ist abgeschafft! Das heißt, wir befinden uns in postdemokratischen Zuständen."
Wie diese Zustände nach der Demokratie aussehen können, zeigt der Science-Fiction-Film "Minority Report". Man wird überall gescannt – ob in der U-Bahn oder im Einkaufszentrum. Erstaunlicherweise ist das schon Wirklichkeit: Supermärkte gehen dazu über, uns mit Kameras zu beobachten, sie zoomen auf unsere Gesichter, scannen die Bewegungen, Computerprogramme interpretieren unsere Stimmung, wissen von unseren Vorlieben – sie kennen uns ja von den vorherigen Besuchen und werden schon bald sekundenschnell das passende Angebot aufs Handy schicken. Schokolade?
Frank Schirrmacher:
"Ich glaube schon, wenn ein typischer Bundesbürger die Analyse seiner Persönlichkeit, aus Sicht einer Firma, noch nicht mal des Geheimdienstes, aufgrund seiner digitalen Kommunikation lesen würde, würde er schon vom Stuhl fallen."
Vorerst fallen die meisten nicht vom Stuhl, sondern freuen sich dabei zu sein. "I think this is really cool!" Er meint dieses lifestylige Stirnband – was es kann? Es misst unsere Gehirnströme: Gibt Auskunft darüber, wie und wie lange wir schlafen, was wir träumen, ob wir faul oder superaktiv sind – Selbstoptimierer tragen auch Armbänder, die kontrollieren, wie viel sie laufen, dass sie nicht zu viel essen. Sie wollen sich im Griff haben und liefern damit Google und Geheimdiensten ihr Lebensprofil frei Haus.
Hans Magnus Enzensberger:
"Das sagen sie auch selbst, die Verfassung ist altmodisch. Das entspricht doch nicht mehr unseren Bedürfnissen, das muss doch weg... diese ganzen lästigen Sachen, Privatsphäre, das ist ja Blödsinn. Weg damit! Das ist alles überflüssig in ihren Augen. Weil die totale Kontrolle ist ihr einziges wirkliches Ideal."
Immer mehr Menschen finden es toll, jeden ihrer Schritte zu vermessen. Trendige Apps auf ihren Handys leiten die Daten weiter: Bewegung, Ernährung, Gefühle, Stress – alles wird erfasst. Die Krankenkassen könnten mitlesen, die AOK Nordost unterstützt bereits jetzt die, die mitmachen. Werden sie demnächst sehen, wenn wir zu wenig schlafen, ungesund essen, uns zu wenig bewegen? Und: Müssen wir dann höhere Gebühren zahlen?
Hans Magnus Enzensberger:
"Es gibt eine Minderheit von Leuten, die das nicht akzeptieren will, aber die Mehrheit der Leute findet das völlig harmlos, unproblematisch. Die verstehen gar nicht, dass eine politische Macht dahinter steht."
Die Macht über uns, so Enzensberger, liegt in der Allianz von Konzerngiganten wie Apple und Co. mit den großen Geheimdiensten. Die einen machen uns zu vorhersagbaren, fröhlichen Konsummaschinen, auf den Servern der anderen sind wir vollständig kontrollierbare Menschen.
Frank Schirrmacher:
"Ob wir nicht schon in einem Zustand sind, wo plötzlich dass, was über mich gespeichert wird, was über mich gelesen wird, die Wahrheit ist und das wirkliche, in der Welt lebende Individuum, das Ich, sozusagen nur noch ein Abklatsch dieser Wahrheit."
Wir erleben eine Verwandlung des ganzen Planeten, sagt Schirrmacher. Big Data – die riesigen Datenmengen machen es möglich, Prognosen zu erstellen darüber, was wir in zehn Jahren denken und tun werden, wen wir wählen, wo wir wohnen, welche Freunde wir haben.
Frank Schirrmacher:
"Was wir jetzt erleben, bestätigt eigentlich einen dunklen Satz von Michel Foucault, der das ja alles vorausgesagt hat. Dieser neue homo oeconomicus, der nur noch nach Effizienzkategorien funktioniert, ist ein eminent regierbarer Mensch."
Die Regierung hat den Skandal um Snowdens Enthüllungen und die gigantischen Datensammlungen der Geheimdienste für beendet erklärt. Schirrmacher und Enzensberger können es nicht glauben: Hat die Regierung den Schuss nicht gehört? Oder will sie, dass wir ihn nicht hören? Wir brauchen eine Diskussion – und kein "Ende der Debatte"!
Dieser Text informiert über den Fernsehbeitrag vom 18.08.2013. Eventuelle spätere Veränderungen des Sachverhaltes sind nicht berücksichtigt.