Bewegung gegen Rassismus: Bilder werden gestürmt, Systeme werden verschont
18. Juni 2020 um 10:57 Ein Artikel von: Tobias Riegel
Filme und Bücher werden verdammt, Denkmäler gestürzt, das Grundgesetz wird von der „Rasse“ befreit: Es scheint, als solle in einem „Kampf gegen die Sprache“ alles fallen, außer dem zugrundeliegenden Wirtschafts- und Rechtssystem. Die Wut über aktuelle Polizeigewalt und die Fixierung auf Symbolik und Historie sind nachvollziehbar – aber auch ablenkend und oberflächlich. Von Tobias Riegel.
Die aktuellen Proteste gegen Rassismus richten sich zum einen gegen akute Polizeigewalt. Eine weitere starke Strömung richtet den Blick auf die Vergangenheit und deren Spuren in Filmen, Büchern, Statuen und Gesetzestexten. Beide Sichtweisen sind einerseits sehr nachvollziehbar. Andererseits arbeiten sich aber beide an Symptomen ab, nicht an Ursachen, und verharren damit an der Oberfläche. Außerdem kann der Überschwang der historischen Korrekturen zum Teil auch als Zensur empfunden werden.
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Verkürzung der Rassismus-Debatte
Es ist in den USA, aber auch in vielen deutschen Medien, eine starke Verkürzung und Instrumentalisierung der Rassismus-Debatte festzustellen: Wer den US-Rassismus auf den aktuellen US-Präsidenten Donald Trump konzentriert, leitet die Debatte in die Irre. Die US-Demokraten haben sich in der Vergangenheit ebenso mit rassistischen Gesetzgebungen und ökonomischen Benachteiligungen die Hände schmutzig gemacht. Sie sind alles andere als geeignete Kronzeugen des Protestes, dürfen diese Rolle aber wegen eines starken Schutzes durch viele US-Medien nun einnehmen. Dieser Schutz besteht auch darin, dass die ökonomischen Gründe für die gesellschaftlichen Spaltungen und Ungleichheiten nicht angemessen thematisiert werden, sondern hinter symbolisch-sprachlichen Schlachten um Denkmäler, Bücher und Filme zum Teil verschwinden.
Die ganze Debatte ist eine heikle Gratwanderung: Einerseits ist antirassistischer Protest sehr berechtigt, aber man fragt sich, warum die für die Situation tatsächlich verantwortlichen Personen und vor allem die ökonomischen Strukturen durch die antirassistischen Protestierer nicht besser identifiziert werden. Indem die wirtschaftlichen Strukturen teilweise ausgeblendet werden: Stellen sich Teile des Protests nicht indirekt an die Seite der Neoliberalen? Sollte es darum tatsächlich verwundern, dass nun große US-Medien die Protestierenden teils unterstützen? Diese Frage stellt auch dieser Artikel, der fordert, „statt Statuen sollten die Protestierenden lieber Walmart stürzen“. Der Artikel thematisiert auch, dass die USA etwa die höchste Inhaftierungsrate der Welt haben. Dabei wird betont, dass diese Ära der massenhaften Inhaftierung unter dem demokratischen US-Präsidenten Bill Clinton die heutigen Ausmaße angenommen hätte. Vor allem auf Clinton würden jene Gesetze zurückgehen, die dafür sorgten, dass heute über zwei Millionen US-Amerikaner im Gefängnis sitzen würden.
Soziale Fragen werden nicht angemessen gestellt
Hier gibt es nochmals zwei zu unterscheidende Ebenen: Zum einen die rassistischen Gesetze und Praktiken im Justiz- und Gefängnissystem der USA, die schwarze US-Bürger im Vergleich ungleich härter treffen. Zum anderen die übergreifende soziale Frage, bei der benachteiligte Schwarze, Weiße, Latinos und Asiaten eigentlich gemeinsam gegen die US-Oligarchie kämpfen könnten.
Auf europäischer Ebene funktioniert diese Ablenkung von den zentralen sozialen und ökonomischen Fragen ähnlich, wie dieser Artikel beschreibt. Demnach würden, „während koloniale Statuen von den Sockeln gerissen werden“, wichtige Reformen etwa des „neokolonialen“ afrikanischen Währungsverbunds Franc CFA stocken.
(NachDenkSeiten)