Erst einmal vielen Dank für deinen Beitrag und vor allem für deinen sachlichen Stil deiner Kritik.
Du schreibst, sie beziehe "sich mit nostalgischen Untertönen auf eine gute alte, vor den neoliberalen Jahrzehnten situierte Zeit (...), in der beispielsweise Leistung sich noch lohnte, während man heute in einer Gesellschaft lebe, in der "vor allem die Herkunft über die Lebenschancen entscheidet".
Ich denke, man kann ihre Haltung nur vor dem Hintergrund verstehen, dass inzwischen 50% eines Jahrgangs Abitur machen und die Anzahl der Studenten sich allein in den letzten ca. 20 Jahren von 2 Millionen auf 3 Millionen gesteigert hat.
D.h. formale Qualifikation / Bildung hat die Funktion verloren, "Privileg" bestimmter sozialer Schichten zu sein und hat sich dadurch "entwertet". Dass dennoch Bildungschancen ungleich verteilt sind und Kindern aus der Arbeiterklasse der Zugang zu höheren Abschlüssen schwerer gemacht wird, ist eine Binse.
Sie betont m.E. berechtigt, es würden nun andere Kriterien wichtig, um den eigenen Lebenslauf gegenüber den der Konkurrenz aufzuhübschen - das Austauschjahr in der Schule, das Auslandssemester, das unbezahlte Praktikum.
Diese haben mit der formalen Qualifikation und der Abschlussnote nichts zu tun, erfordern aber finanzielles Engagement der Eltern.
Wer sich solche "Alleinstellungs-/Distinktionsmerkmale" nicht leisten kann, der verliert in der Konkurrenz und umgekehrt: wer sich diese leisten kann, wird verlangen, sie sollen höher gewichtet werden als die Abschlussnote.
Ich bin an dieser Stelle sensibilisiert durch die Entwicklung in den USA, wo die "grade inflation" an den Schulen ein Ausmaß angenommen hat, das man sich hier nicht vorstellen kann.
Tatsächlich ist dort ein A- ein C; also eine 1- eine 3 geworden.
Unter dem moralischen Tarnmantel, "kein Kind zurückzulassen" hat man faktisch schulische Spitzenleistungen durch Inflationierung der Vergabe von A+-A- systematisch entwertet und dafür gesorgt, dass Leistung kein Kriterium der Differenzierung mehr ist.
Um so mehr ist es dann wichtig, auf welcher Schule und auf welcher Universität man gewesen ist - prompt ist der finanzielle Hintergrund der Eltern wieder ausschlaggebender Faktor.
Was sich vordergründig als egalitär im Sinne von "equality of outcome" gibt, sorgt in Wahrheit für die Sicherung des Status Quo.
Von daher ist ihr Appell, sich genau anzuschauen, wer eigentlich den Abschied von "Leistung" fordert und welches Motiv dabei eine Rolle spielt, für mich plausibel.