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  • McGyver777

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1. Frankfurter Auschwitz-Prozess: Tondokumente (sehr empfehlenswert)

Levski schrieb am 3. Juli 2012 07:43

> Weder Treuherzigkeit noch Zynismus. Und dieses Wegschauen gibt es
> nicht erst seit 1945. Es fing auch nicht 1933 an, darauf hat schon
> Bismarck gebaut. In  einem Land, in dem gesellschaftliche
> Veränderungen immer von oben verordnet wurden, ist das Angst vor
> Veränderung und der Obrigkeit. Ernsthafte gesellschaftliche Probleme
> gibt es nicht in diesem Land. Worüber man nicht spricht, das gibt es
> nicht, das ist das Paradigma.

> Das Nazisystem wurde nie wirklich verarbeitet. Der (West)deutsche
> leitet nach dem Zweiten Weltkrieg sein Selbstbewusstsein einerseits
> aus der enormen wirtschaftlichen Wiedergeburt zwischen 1950 und 1965
> ab und zweitens aus einer Identität, die von US-Amerika geborgt
> wurde. Wieder hat sich Michel mit einer Obrigkeit identifiziert.

> Hammerschmitts Satz "Denn Deutschland hat seine Schalldämpfer
> aufgeschraubt" ist in diesem Artikel der Kernsatz. Aber er stimmt
> nicht ganz. Die Schalldämpfer werden nicht aufgeschraubt, die sind
> immer da. Sie sind so selbstverständlich Bestandteil der deutschen
> Realität, dass sie gar nicht mehr wahrgenommen werden.

Alles richtig. ++

Ich arbeite mich derzeit (in meiner Freizeit) mal wieder durch die
diversen Zeugenaussagen des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses von
1963-1965.
Die Tonbandaufnahmen und Transkripte sind eine Art Fernrohr in die
Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Mentalität. Die Stimmen der
täternahen Zeugen und Täter, die Art mancher Richter, Staatsanwälte
und Rechtsanwälte die Prozeßabschnitte zu leiten und zu bearbeiten,
der Stil der Befragungen, sogar die im Einzelnen als fast
rührend-milde zu bezeichnende Art des "vertieften Fragens", die
diversen Zwischentöne, die allgemeine Unsicherheit, das sich
Voran-Tasten durch die Befragungsthemen, um herauszufinden, wie alles
Gehörte nun tatsächlich aus den Perspektiven der jeweils Beteiligten
hervorging - all das ist in ca. 100 Stunden Tonprotokoll zu hören.

> http://www.fritz-bauer-institut.de/fileadmin/user_upload/uploadsFBI/pdfDateien/DVD-directmedia.pdf

> http://www.versand-as.de/shop/Software-DigiBib-mehr/Digitale-Bibliothek/Zenoorg/Der-Auschwitz-Prozess-2-verbesserte-Auflage--2002.html

> http://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Bauer

Wohlgemerkt: nicht aus dem Wunsch nach Guido-Knopp-mäßigem
"Geschichts-Voyeurismus", nicht um sich aus vermeintlich "sicherer"
zeitlicher Distanz mit dem Thema zu beschäftigen, sondern um zu
lernen, was hier in der Tiefe zu heilen sein könnte - allein deshalb
sollte man sich wirklich mit diesen Dokumenten auseinandersetzen,
jeder daran Interessierte für sich. Sich-erinnern-wollen ist
Schwerstarbeit, selbst wenn es sich dabei um die konkreten
Erinnerungen der eigenen Vorfahrengenerationen handeln mag. Fritz
Bauer war ein herausragender "Verstehenwoller", er hat insgesamt viel
mehr offengelegt, als die nackten Anklagepunkte, Aussagen und Beweise
zunächst nahelegen würden.

Grüße,

Mc

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