Der Artikel ist reflektiert und der Autor lässt sich auch nicht von aktuellen Mainstream-Meinungen das Denken verbieten. Dass bei der Artikellänge und bei dem über viele Jahre gewachsenen Thema nicht jeder mit allem 100%ig konform geht - geschenkt. In einem öffentlichen Resonanzraum, in dem es immer lauter, aber nicht unbedingt feingeistiger wird, freut man sich über jeden Beitrag, der eigene Gedanken vermuten lässt.
Was ich trotzdem zu bekritteln habe: Warum nimmt der Autor diese dämliche Bezeichnung „Putin-Versteher“ als Aufhänger? Musste es unbedingt dieser Pawlowsche Reflexbegriff sein? Auch wenn Vonnahme versucht, diesen Begriff semantisch aufzudröseln, es ist vergebene Liebesmüh. Wenn der Autor dann noch beschreibt, wie Putin seinerzeit im Bundestag sein Herz erobert hat, dann rollt er diversen Einfaltspinseln einen roten Teppich zu der (vermeintlichen) Erkenntnis aus, dass die "Versteher"-Blicke auf Putin in den letzten Jahren wohl doch etwas arg weichgezeichnet waren.
Dieses muss aber keineswegs für alle gelten, denen in Kommentarbereichen, Foren, privaten Gesprächen schon einmal / mehrmals dieses nette Etikett umgehängt wurde. Ich bin mir sogar recht sicher, dass sehr viele dieser "Versteher" keine emotionale, verständnistrübende Verbindung zu Putin haben. Trotzdem konnte man ab 2014 nicht mehr darüber hinwegsehen und -gehen, dass der Russland-Diskurs in Deutschland Formen annahm, die immer schamloser wurde. Doppelstandards und Verlogenheit wurden zur gängigen Handelsware in Politik und Presse. Das musste auffallen. Und die versuchte Verächtlichmachung von Leuten, denen das auffiel, durch eben diesen Begriff machte die Sache noch unappetittlicher.
Kurz, die Bezeichnung „Putin-Versteher“ ist seit ihrem Aufkommen (2014) ein Begriff der Niedertracht, um kritische Annäherungen an den neu aufkommenden kalten Krieg zu diffamieren. Ihn jetzt hier als zentralen Begriff für ein ich-habe-geirrt-Bekenntnis zu nutzen, nimmt leider ein Stück weit all die mit ins Boot, die sich seit Jahren in durchaus aufklärerischer Weise bemühen, Putin, sein Umfeld, seine Politik, aber eben auch seine extreme Rolle als prominenteste (Kampagnen-)Zielscheibe aller Transatlantiker zu beleuchten, zu analysieren und – ja - zu verstehen. Deshalb liefert der Aufhänger Vonnahmes in dieser hochnervösen Zeit Wasser auf die Mühlen derer, die nicht mal ansatzweise bereit sind, auch nur die geringste Komplexität oder gar Selbstkritik in ihrer dumpfen s/w-Parolenwelt zuzulassen. Und das ist nach wie vor falsch.