Ansicht umschalten
Avatar von
  • unbekannter Benutzer

6 Beiträge seit 25.03.2002

Virtualisierung der Wirklichkeit

Also ich denke, man muss das Phänomen etwas differenzierter betrachten.
Würde das Programm ausschlieeslich aus Peter Lustigs Löwenzahn und der
Sendung mit der Maus bestehen, wäre das aggressionsfördernde Potential
des Mediums wahrscheinlich deutlich geringer. Aber ich glaube dieses
Potenzial ist eher eine sekundäre Auswirkung des Mediums Fernsehen. Man
muss eine Trennung zwischen den Inhalten eines Mediums und dem Medium
selbst vollziehen. So muesste die Frage eigentlich lauten, ob das
Medium an sich agressionsfördernd ist, oder ob dies erst durch die
Inhalte ausgelöst wird. Die Antwort liegt wie immer dazwischen. Das
agressionsfördernde Potential ensteht durch eine komplexe Interaktion
zwischen Medium, Inhalt und Rezipitient.
Die primäre Auswirkung besteht darin, das eine "Virtuelle Wirklichkeit"
geschaffen wird, welche in Interaktion mit der "Wirklichen
Wirklichkeit" tritt. D.h. im Klartext, dass die "Virtuelle
Wirklichkeit" wirklicher wird und gleichzeitig die "Wirkliche
Wirklichkeit" virtueller wird. Zu diesem Thema eignet sich als Lektüre
: "Bewusste und unbewusste Illusionen" von Stanislaw Lem, vom
03.08.2000 hier in Telepolis. 
Gerade bei Kindern ist der Prozess der Differenzierung zwischen
"Virtueller Wirklichkeit" und "Wirklicher Wirklichkeit" voll im Gange.
Ich kann mich noch gut daran erinnern wie ich als Kind langsam lernte,
das Träumen in unserer Kultur der Status der Wirklichkeit nicht
zugesprochen wird. Zum zweiten lernen Kinder nur durch Nachahmung und
Beobachtung (vgl. auch Piaget).Fassen wir nun diese Überlegungen
zusammen, und überlegen, welche Prozesse in einem Kind vorgehen, dass
täglich einige Stunden vor dem Fernseher zubringt und gewaltätigen
Inhalten ausgesetzt ist, wird klarer was ich meine.
Nehmen wir als Beispiel ein Kind, dass noch nie vor dem Fernseher sass.
Es steht im Sandkasten des Kindergartens und schlägt ein anderes Kind.
Sofort eilt ein Erzieher herbei und erklärt dem Kind, das Gewalt gegen
andere schlecht ist. Im Idealfall lernt das Kind, das andere Kind als
wirklich wahrzunehmen, sich in es hineinzuversetzen und empathisch die
Schmerzen mitzuempfinden. Betrachten wir nun ein anderes Kind, das
schon einige tausend Stunden Horror und Kriegsfilme gesehen hat und
begeistert Ego-Shooter zockt.
Kann dieses Kind die Gewalt, die es einem anderen zufügt und den
anderen noch als wirklich empfinden? 
Diese Beispiele sind natürlich etwas überzeichnet um die Grundstruktur,
die dahintersteht deutlicher hervortreten zu lassen.
Kaum ein Erwachsener ist sich noch bewusst darüber, das er als Kind das
Fernsehen erst lernen musste. In der ethnographischen Literatur werden
Fälle beschrieben, in denen "Naturvölker" zum erstenmal mit dem Medium
TV konfrontiert werden. Diese Menschen konnten zunächst garnichts,
ausser sich bewegenden Farbflächen wahrnehmen. Erst mit der Zeit
lernten sie die zweidimensionale Darstellung als dreidimensional
wahrzunehmen. Wen wir in den Fernsehapparat schauen, sind wir uns doch
überhaupt nicht mehr bewusst darüber, das da eigentlich in
"Wirklichkeit" gar keine dreidimensionale Erlebniswelt vorhanden
ist.Und wer glaubt daran, das unser Bewusstsein in der Lage ist, nach
einigen Stunden Dauerberieselung mit fiktiven Inhalten (Baywatch, Star
Wars etc.) um 20:00 plötzlich auf den Real-Modus umzuschalten und die
Tagesschau als Wirklich wahrzunehmen? 


Bewerten
- +
Ansicht umschalten