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  • Bernd Paysan

mehr als 1000 Beiträge seit 11.01.2000

Vitamine und die Skepsis der Medizin…

Ganz andere Baustelle:

Meine Mutter hatte eine seltene, erbliche Muskelerkrankung, ein rarer Gendefekt in einem Enzym, der leider beide Kopien ausknockte (an unterschiedlichen Stellen). Wie bei seltenen Krankheiten üblich, findet man kaum Ärzte, die sich damit auskennen, aber in München gab es tatsächlich einen Spezialisten. Der genau daran forschte, aber auch noch kein Mittel hatte. Also, wenigstens jemand, mit dem man was ausprobieren kann.

Meine Mutter hat aufgrund eines populärwissenschaftlichen Beitrags in der Fernsehzeitschrift (wahnsinnig seriöse Quelle, aber es war halt eine Aufbereitung des Nobelpreises von 1978, und der Nobelpreis war ja völlig seriös) relativ bald nach der Diagnose Vitamin Q10 ausprobiert. Das war damals so neu, dass es das überhaupt als Nahrungsergänzung erforscht wurde, und meine Mutter hat da im Rahmen einer medizinischen Studie welches von einem Hersteller (aus München) bekommen. Der Körper erzeugt das übrigens eigentlich selber, aber mit 30-40 lässt das nach, und in genau dem Alter fängt diese Muskelerkrankung an, sichtbare Auswirkungen zu haben. Einen grundsätzlich möglichen medizinischen Zusammenhang konnten auch die Experten nicht von der Hand weisen.

Jedenfalls war meine Mutter über einige Jahre die einzige Patientin, die keine weiteren Schübe der Krankheit hatte, also einen „besonders milden Verlauf“, und wurde von dem Arzt deshalb auch nicht so richtig ernst genommen. Bis irgendwann der Hersteller mit seiner Studie fertig war, und jetzt auf die Zulassungsbürokratie warten musste (bzw. das Projekt verwarf, weil zu viel Konkurrenz erwartet wurde). Obwohl es andere Hersteller gab, die ebenfalls damit experimentierten, oder schon durch die Zulassung durch waren, verweigerte der Spezialist meiner Mutter ein Jahr lang den Zugang dazu, und in diesem Jahr gab es auch einen schweren Schub.

Danach erst war der Spezialist dann davon überzeugt, dass das wirklich was taugt, und hat es allen Patienten gegeben. Es ist kein Wundermittel, es heilt nicht, es bremst nur den Verlauf, und dafür ist es verdammt billig (also, normalerweise kosten Medikamente für seltene Krankheiten sehr viel). Und einmal zerstörtes Muskelgewebe wird halt nicht mehr aufgebaut, d.h. jeder Schub ist irreversibel. Wir haben uns über diese Art der „Studie“ geärgert, weil sie gegen den erklärten Willen der Patientin erfolgte, und auch die statistische Signifikanz eher klein war (1 Patient! Kriegst du nie durchs Peer Review!).

Aber der Arzt war halt wirklich der Meinung, dass das eh nichts hilft, und dass das nur Glaube an das von populärwissenschaftlichen Medien (Fernsehzeitschrift!) gehypte Q10 sei. Von dieser Meinung ist er dann durch dieses unethische, nicht alternativlose Experiment, wieder abgerückt. Er hätte ja stattdessen den anderen Patienten Q10 geben können, die ja alle einen relativ schnellen Verlauf gezeigt haben. Das wäre ethisch einwandfrei gewesen. Zumindest hat er das dann anschließend gemacht, und so auch deren Leid gemildert.

Jedenfalls: Man kann sicher sein, dass Ärzte generell die Wirkung von Vitaminen unterschätzen, und die Industrie der Nahrungsergänzungsmittel als Scharlatane bezeichnen. Der gesunde Mensch braucht das Zeugs bestimmt nicht. Aber was ist mit dem Kranken? Was ist, wenn der Zustand „Mangel“ sogar ein halbes Jahr normal ist, wie bei Vitamin D?

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