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  • archenoe

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Re: Überforderung der TP-User

asxdef schrieb am 08.12.2022 12:16:

archenoe schrieb am 07.12.2022 17:58:

weil bürgerliche Gesellschaft (kurz: Kapitalismus) immer, nämlich systemimmanent kriegerisch ist

Ja so einfach kann man sich die Welt machen. Und dann anderen Überforderung vorwerfen, genau mein Humor.

Sie machen es sich zu einfach, denn durch die bürgerliche Ideologie hindurch erst einmal zu dieser Grunderkenntnis zu kommen, ist bereits alles andere als einfach.
Außerdem werfe ich anderen die Überforderung nicht vor, sondern stelle sie fest und kann sie auch nachvollziehen, weil die Ursachen in erheblichem Maße eben im Kapitalismus selbst liegen.

Sie konnten doch in den letzten Monaten, wenn sie gewollt hätten, hier im Forum verfolgen, wie sich sowohl die Russland- als auch die NATO-Freunde gleichermaßen den aggressiven Krieg Russlands gegen die Ukraine und die aggressiven NATO-Strategien vor und seit Kriegsbeginn immer nur als Auswuchs des Bösen, der Machtgier, der persönlichen Bereicherung usw. vorstellen können, also allerlei psychische Dispositionen politischer Akteure bemühen müssen, um sich überhaupt eine "Erklärung" zurechtlegen zu können. Strukturen, Verhältnisse und darauf fußende Prozesse sind, wenn überhaupt, zweitrangig. Personalisierende Sichtweisen dominieren. Und diese Sichtweisen verhindern die Erkenntnis des hinter dem Rücken der Akteure wirkenden stummen Zwangs der kapitalistischen Verhältnisse.

Alle historischen Widerlegungen dieser personalisierenden und psychologisierenden Sichtweise werden nicht als solche wahrgenommen. Ein Obama wurde von einem Teil der US-Bevölkerung wie der Messias bejubelt, Trump von einem anderen Teil. Biden wurde wiederum vom erstgenannten Teil als Befreiung von Trump gefeiert. Eine wesentliche Veränderung der Politik der (Noch-)Weltmacht Nr. 1 brachte und bringt keiner von ihnen zustande. Unbeeindruckt von solchen Tatsachen werden sie dennoch von einer riesigen Mehrheit als die mächtigsten Männer der Welt wahrgenommen und jeweils ein Teil der Bevölkerung sieht in ihnen eben schlechte Politiker. Alle miteinander kommen aber nicht darauf, das ihre Bewertungskriterien falsch sein könnten.

In Russland gibt es immer noch einen virulenten Stalinkult, aber eben auch einen Putinkult, auch wenn der für immer mehr Russinnen und Russen von der real-aggressiven Kriegspolitik Russlands konterkariert wird. Die nun drohende Erkenntnis, nicht nur der Westen habe Russland umzingelt (was stimmt), sondern der russische Staat bzw. Putin praktiziere (andere) aggressive Konkurrenzstrategien, die den Russinnen und Russen schaden, wird sehr wahrscheinlich auch in Russland wieder nur den Wunsch nach einer anderen Person an der Spitze des Staates antriggern und nicht etwa eine radikale Reflexion der falschen personalisierenden Perspektive und die Analyse staatlichen und ökonomischen Zwangs hervorrufen.

Der kapitalistische Krieg gegen die Natur - Pflanzen, Tiere, Menschen - wird spätestens seit den 1970er Jahren per "Umweltschutz" begleitet. Es ist aber offenkundig, dass der Umweltschutz bis auf temporäre und lokal begrenzte "Erfolge" systematisch und systemisch misslingt. Wie jedoch wird das Warum von der riesigen Mehrheit diskutiert? Personalisierend! Schlechte Politik einzelner Personen, Parteien, Regierungen usw. sei verantwortlich. Auch die Variante, Klimawandel gleich ganz zu leugnen, wird mit personalisierender Kritik gewürzt. Die Grünen seien die Bösen und unter ihnen gebe es einige ganz besonders böse Exemplare, die "uns" den Wohlstand mit ihrer Klimawandelphantasie zerstören wollten.

Soll reichen, um die psychologisierende und personalisierende "Kritik"-Perspektive als mächtiges im Kapitalismus entstehendes Bollwerk gegen jede grundlegende Kapitalismuskritik und seine Überwindung bzw. Transformation zu verdeutlichen.

Selbstverständlich gibt es noch einige andere Elemente bürgerlicher Ideologie zur Sicherung des Kapitalismus. Mir ging es hier nur darum zu erhellen, welcher Teilaspekt dieser Ideologie in besonderem Maße die Möglichkeit, Strukturen und Verhältnisse in den Blick zu nehmen, von vornherein verhindert.

Diejenigen, die wenigstens auf ökonomische und politische Verhältnisse schauen, verbarrikadieren sich, um drohende kritische Erkenntnis zu verhindern, mit (Neo-)Liberalismus oder verheddern sich in überbordende und für jedes Übel verantwortlich machende Kritik an Institutionen, Bürokratie, partiellen Fehlkonstruktionen parlamentarischer Demokratie u.Ä. und landen nicht selten dann doch wieder in psychologisierender und personalisierender Sichtweise, die übrigens oft als besonders harte Kritik gefeiert wird (speziell unter Journalisten verbreitet).

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