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  • mind.dispersal

mehr als 1000 Beiträge seit 02.03.2010

Wissenschaft und Idealismus

Es sieht so aus, als seien die vom Adel verwendeten Verfahren zur Markierung und Wahrung des Standesunterschiedes übernommen und in andere Formen übersetzt worden: hatte die Aristokratie ihre Eigenart in Form des "Blutes" behauptet, so definiert sich jetzt das Bürgertum von seiner körperlichen Gesundheit her – geschützt durch selbst gegebene biologische, medizinische und später auch eugenische Vorschriften, gestützt also auf Wissenschaft.

Heikle Formulierung. Wissenschaft informiert über Ist-Zustände der Realität und Zusammenhänge. Ob man sich auf sie stützt oder von ihr gestützt wird, ist meist mit einer Menge Interpretationsspielraum behaftet.

Wissenschaft findet zum Beispiel bezüglich des Körpers, dass das Stresshormon Cortisol eine katabole Wirkung gegenüber Proteinen hat und eine anabole gegenüber Fettgewebe. Es baut Muskeln ab und Fettgewebe auf. Deshalb begünstigt Stress eine Gewichtszunahme. Auch im Wissenschaftlichen Rahmen wäre die Interpretation: Stress ist das Gefühl, ausgegrenzt oder zurückgelassen zu werden, weil man eine Anforderung oder Anstrengung nicht oder nur sehr schwer bewältigen kann. Der Körper beugt dem Hungertod vor.

Nun geht der eine hin und sagt, dass es Menschen gäbe, die gesünder sind, als andere, weil sie in Stresssituationen weniger Cortisol ausschütten und Cortisol bei ihnen auch etwas weniger Muskeln ab- und Fett aufbaut, als bei anderen. Sie seien leistungsfähiger und deswegen zu bevorzugen.

Der andere sagt, dass niemand zurückgelassen werden darf, alle gleich sind und Adipositas offensichtlich eine Folge von gesellschaftlichem Stress sei, den die Gesellschaft als ganzes zurückfahren muss, um niemand zu benachteiligen.

Ein dritter sagt, dass dies typischerweise das Ergebnis einer Wissenschaft sei, die von weißen privilegierten Männern betrieben würde und darin verborgenes "fat-shaming" enthalten sei, weil damit suggeriert würde, mollige Menschen seien ein passives Resultat negativer gesellschaftlicher Entwicklungen und keine willentliche Identität mit Molligkeit als positivem Identitätsmerkmal.

Alle drei sind Idealisten. Nichts davon hat irgendwas mit Wissenschaft zu tun, sondern nur mit den eigenen Überzeugungen, wie die Welt, bzw. das Zusammenleben in einer Gesellschaft sein sollte. Die Frage muss immer sein: Worauf stützt sich diese Überzeugung? Allgemeinwohl? Individueller Nutzen? Religion? Idealistische, philosophische Weltbilder? Machtvorteil?

Abgesehen davon hat insbesondere die Corona-Pandemie gezeigt, dass anerkannte Realität immer wissenschaftlich sein muss, weil jeder die Wissenschaft auf seiner Seite wähnt und lediglich definieren will, was nun Wissenschaft (Realität) sei und was nicht.

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