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  • Sentinel

mehr als 1000 Beiträge seit 08.05.2023

Es ist kompliziert

Einer Feststellung wird vermutlich niemand ernsthaft widersprechen wollen - egal welchem Lager er sich gedanklich oder emotional zuordnet:
Zum Zeitpunkt der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer 2023 hatten die Ukrainischen Streitkräfte keine Lufthoheit oder Luftdominanz über die Frontabschnitte und deren Hinterland. Ich denke, dass man weder KGB-Agent, russischer Mil-Blogger, ukrainischer Soldat oder NATO-General sein muss, um einfach zu sagen: ja, so war es.

Die teuren Flugabwehrstellungen bestehend aus Patriot oder Iris-T waren ganz dünn gesät, und was mit ihnen passierte, wenn man sie zu nah an die Frontlinie heranrückt, zeigte sich beispielhaft, als russische Projektile ein solches System in der Region Cherson beschädigten, nachdem dieses etwa 40 km an die Frontlinie gebracht worden war. So kam es, dass die für die ukrainische Gegenoffensive eingesetzten Truppen quasi in "non-shaped battlefield" hineinrennen mussten: In Verteidigungsanlagen und Minenfelder, die nicht nur voll funktionsfähig waren, sondern insbesondere von einige km dahinter positionierten Alligator-Hubschraubern kräftige Luftunterstützung erhielten.

Das sind die Fakten, die von allen Seiten so berichtet wurden, also gehe ich davon aus, dass sie ein Minimum an kongruenter und parteiübergreifender Information darstellen.
Fun fact (auch das ist denke ich hinreichend belegt):
Keine einzige NATO- oder Allierten-geführte Truppe hatte jemals irgend eine größere Schlacht begonnen, ohne das Schlachtfeld vorher in wochenlanger Kleinarbeit aus der Luft zu zerlegen. Nun erwartete man aber genau das von der ukrainischen Armee?

Die entscheidende Frage aus ukrainischer Sicht ist nun: Hätte die Armee irgend eine Möglichkeit gehabt, dennoch schmale Angriffskorridore erfolgreich in die Front reinzuschneiden, indem sie z.B. alles an HIMARS und Artillerie an einen einzigen Punkt fokussiert hätte, um dann blitzschnell und trotz der fehlenden Luftunterstützung durchzustoßen?

Diese Frage ist aber von außen kaum ernsthaft zu beantworten, da kein Mensch genau weiß, wie das ausgegangen wäre.
Damit so etwas gelingen kann, hätte es zweier Dinge gebraucht:

1. Eines sehr starken Ablenkungsmanövers, dass die russischen Abwehrkräfte zum großen Teil vom eigentlich geplanten Ort des Geschehens weggelotst hätte
2. Eines sehr verdeckten, ja geradezu geheimen Heranschaffens massiver Ausrüstungs- und Truppenteile an den Ort des geplanten Angriffs heran: Hierzu hätte man etwa etliches Großgerät zerlegen und durch kilometerlange Tunnel direkt an oder sogar hinter die Front bringen müssen, wo sie dann blitzschnell aus der erde auftauchen und anfangen alles plattzumachen. Ähnlich der Hamas-Taktik in Gaza hätte man mit langgezogenen Tunneln unter die Verteidigungsanlagen und unter die Minenfelder hindurch Stoßtruppen hinter die front bringen können, die dort dann hätten aktiv werden können und etliche Verteidigungsmodule quasi aus dem Rücken heraus beseitigen.

Das sind aber nur wilde Phantastereien von jemandem, der etwas zu viele Starwars- und James-Bond Filme geschaut hat. Was sich hier super anhört, hätte möglicherweise 100 Millionen praktischer Gründe, warum es gescheitert wäre.
Was ich damit ausdrücken will: Man kann nicht ausschließen, dass die Ukrainer eine Chance gehabt hätten mit einer anderen Taktik, aber selbst solche extrem innovativen Taktiken hätten alle nur geringe Erfolgsaussichten gehabt: zu stark die gegnerische Aufklärung per Drohne, Elektronik und Satellit.

Nun ist es gar nicht abwegig, dass Staatspräsident und der Militärchef sich im Operativen nicht immer einer Meinung sind.

Das viel größere Problem ist aber, wie man diese Differenzen tatsächlich nach außen kommuniziert und welche Folgen es haben kann, wenn hier eine Uneinigkeit als Gefühl nach außen und zutage tritt.

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