In dem Artikel gibt es mehrere Ungenauigkeiten, häufig hat sich der Autor offenbar auf Aussagen der serbischen Opposition und Protestbewegung verlassen. Im Einzelnen:
Vor allem das gezielte Überfahren zweier Studenten während einer Demonstration durch ein Auto regierungstreuer Schläger verbreitete Angst und Schrecken.
Die Protestierenden haben ohne vorherige Anmeldung Kreuzungen, Plätze & Brücken blockiert. Autofahrer, die zufällig in diese Blockade gerieten und dabei genervt oder ohne Zeichen von Sympathie reagierten, wurden beschimpft und die Autos beschädigt. In einem Fall wurde eine junge Autofahrerin von den Protestierenden umringt, nach einem verbalen Schlagabtausch verlor sie die Nerven und fuhr los, obwohl sich gerade eine der Protestierenden ihr in den Weg stellen wollte und sich vor das Auto stellte. In einem anderen Fall wurde bei einem Auto die hintere Seitenscheibe eingeschlagen, auf dem Rücksitz saß ein Kind. Der Fahrer geriet in Panik und trat aufs Gaspedal , dabei überfuhr er eine junge Frau, die glücklicherweise mit keinen schweren Verletzungen davonkam. Beide Fahrer wurden festgenommen und dürfen mit einer Haftstrafe rechnen. Von einem ´gezielten Überfahren´ kann hier nicht die Rede sein. Für beide Fälle gibt es Aufnahmen, die den Vorgang dokumentieren.
Vor allem die Jugend erlebt Stagnation und Tristesse, Korruption und Armut.
Ja, es gibt Armut in Serbien. Es gibt auch Korruption in Serbien, kaum zu glauben in einem europäischen Land :-)) Aber Stagnation und Tristesse? Die Bilder von den gut gefüllten Bars und Clubs sprechen nicht dafür. Die Studenten, die momentan protestieren, kommen zu 80% aus keinem armen Elternhaus, die ärmeren Eltern können sich ein kostenpflichtiges Studium inkl. Unterhalt für ihre Kinder gar nicht oder kaum leisten. Es kann also schon von einem Protest der Privilegierten gesprochen werden.
61 Prozent der Serben unterstützen laut Umfragen die Proteste.
Die Umfrage wurde von der NGO CRTA vorgenommen, ein Ziehkind der USAID. Das Ergebnis ist mot Vorsicht zu betrachten, die Stimmung im Land unterstreicht diese Ziffer nicht. Viele verlangen von der Regierung entschieden gegen den Boykott an Schulen und Universitäten sowie den unangemeldeten Blockaden der Straßen und Brücken vorzugehen.
Wirtschaftlich liegt Serbien auf Platz 10 der ärmsten Länder Europas – noch vor den Armenhäusern Albanien, Moldawien oder der Ukraine.
Der Autor bezieht sich vermutlich auf diese Meldung:
https://www.wiwo.de/politik/deutschland/ranking-2023-das-sind-die-zehn-aermsten-laender-europas-nach-bip-pro-kopf/27719302.html
Zur Klarstellung: Serbien liegt auf Grundlage der Erhebung des Internationalen Währungsfonds (IMF) für das Jahr 2022 auf Platz 10 von 10 europäischen Ländern. Von diesen 10 Ländern ist es das wirtschaftsstärkste Land. Das ist natürlich nicht herausragend, doch bei der Betrachtung der Wirtschaftsentwicklung Serbiens der vergangenen 30 Jahre muss berücksichtigt werden, dass Serbien nahezu ein Jahrzehnt westliche Sanktionen durchlitten hat und im Rahmen des völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieges bedeutende staatliche Infrastruktur, Industriebetriebe und Energieversorgung zerstört oder zumindest empfindlich getroffen wurden. In Belgrad wurden seinerzeit die Kriegsschäden auf über 180 Milliarden DM beziffert. Serbien hat inzwischen etwas Luft geholt aber erholt hat es sich davon noch nicht.
https://www.berliner-zeitung.de/open-source/der-ungesuehnte-chemiekrieg-gegen-serbien-wer-verurteilt-endlich-die-nato-li.165044
Abschließend: Die Proteste sind eine Mischung aus gelenkter Farbrevolution, Anarchie light und berechtigten Anwürfen. Ich halte den Auslöser der Protestbewegung, d.h. das eingestürzte Bahnhofsvordach in Novi Sad, für vorgeschoben. Für die Annahme einer gelenkten Farbrevolution spricht, dass ein großer Teil des Prozedere und der Protestsymbole vorbereitet wirken, so wie bei den Protesten der vergangenen Jahre. Der große Zulauf kam dann überraschend, ist z.T. Folge der enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten, z.T. Ausdruck einer konformistischen, eher privilegierten Schicht. Es ist natürlich auch cool, ein bisschen zu rebellieren. Die Protestbewegung hat keinen homogenen oder konkreten Konsens, die anfänglichen Forderungen bezogen sich auf die Aufklärung des Unglücks in Novi Sad, peu à peu wurden Forderungen für politische Veränderungen und gar Systemwechsel erhoben. Vereinzelt hört man den Wunsch nach einem besseren Leben, einer besseren Gesellschaft, einer besseren Regierung usw. Eine Studentin in einer Sendung meinte, in Serbien hätte sie keine Luft zum Atmen…Das ist schon Jammern auf hohem Niveau. Das Regierungsangebot für Gespräche wurde ausgeschlagen, das Prinzip lautet: Es muss sich was ändern, aber darüber wollen wir nicht reden.
In den vergangenen Jahren wurde jedes Unglück für den Versuch eines Regime-Change instrumentalisiert, vor 2 Jahren waren es Amokläufe eines 13-jährigen Jungen und eines 20-jährigen Jugendlichen, bei dem 20 Menschen, vorwiegend Kinder und Jugendliche, ermordet wurden. Die Regierung und insbesondere Aleksandar Vucic wurden von den oppositionellen Kräften für die Taten verantwortlich gemacht. ´Serbien gegen Gewalt´ lautete seinerzeit das Motto, momentan lautet die Parole: Eure Hände sind blutig. Dazu das bereits in vielen anderen Ländern benutzte Symbil der roten Hand. Irrsinn kennt häufig keine Grenzen.