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mehr als 1000 Beiträge seit 12.04.2002

Plädoyer für ein universelles Recht auf kulturelle Entwicklung.

Nacho schrieb am 10. Juli 2003 17:52

> [...] Wir denken uns: Wir sind im 21.
> Jahrhundert. [...]
>
> Aber anscheinend sind noch nicht alle im 21. Jahrhundert
> angekommen...

Vielleicht ahnst Du gar nicht, wie recht Du hast! Daß "noch nicht
alle im 21. Jahrhundert angekommen sind" ist vollkommen richtig. Und
außerdem so wenig ein Grund für Häme wie es sich auch für einen
älteren Menschen verbieten sollte, sich über das eine oder andere
-aus seiner Sicht- "Defizit" eines jüngeren Menschen lustig zu
machen... schließlich war jeder ältere Mensch selber auch mal jung.

Ich will mal versuchen, meine Sicht...
[die ihre geistigen Väter hat, was ich nicht unerwähnt lassen will,
um mich hier nicht etwa mit fremden Federn zu schmücken]
...möglichst einfach darzustellen.

Wie einzelne Menschen sind auch menschliche Kulturen zu verschiedenen
Zeiten "geboren" wurden, waren jung, wurden erwachsen, dann alt und
sind schließlich zugrunde gegangen. Wenn z.B. die Griechen der Antike
NICHT in den Weltraum geflogen sind, dann nicht, weil sie dazu zu
dämlich gewesen wären, sondern schlicht, weil es ihre Seele nicht
nach dem Unendlichen drängte, sondern nach dem hier und jetzt, dem
körperhaft Vorhandenen. So ist die Statue der höchste künstlerische
Ausdruck antiken Strebens, während es für unser Empfinden das
Symphoniekonzert wurde: es genügt, die Augen zu schließen, um sich
eins mit der Unendlichkeit zu fühlen.

Als die Römer nach Norden kamen, was mögen sie wohl von den
"Barbaren" gehalten haben, denen sie dort begegneten?! Erlitten sie
womöglich so etwas wie einen "Kulturschock"?

Anders als die Kette "Antike - Mittelalter - Neuzeit" suggeriert, ist
"Entwicklung" nicht ein einziger, kontinuierlicher Prozeß vom Urknall
bis eines Tages die Sonne verglüht! Vielmehr zeigt sich das Phänomen
"menschlicher Hochkulturen" erst seit rund 10.000 Jahren auf diesem
Planeten. Und bloß, weil niemand erklären kann, warum und wie es dazu
kam, läßt sich das nicht leugnen. Solche Hochkulturen unterscheiden
sich von, sagen wir mal, rein biologisch-menschlichem Dasein dadurch,
daß sie im Innern eine Entwicklung aufweisen, in ihren Anfängen also
die zugehörigen Menschen ganz anders drauf sind, als sie es an ihrem
Ende sind --- während sich das "rein biologisch-menschliche Dasein"
dadurch auszeichnet, daß alle Gewohnheiten, Bräuche oder Riten sich
über Jahrhunderte hinweg nicht verändern (solange sie nicht von außen
"gestört" werden). Das kann aber nun keine Diskriminierung "rein
biologisch-menschlichen Daseins" bedeuten, denn jede Hochkultur ist
einst aus solchem hervorgegangen und also trägt auch jede dieser
stagnierenden menschlichen Daseinsformen (sofern es die noch geben
sollte) den Keim für eine neue menschliche Hochkultur in sich.

Zu "uns": Gerade als und weil die Römer uns Keimlinge seinerzeit mit
ihrer "älteren" Kultur heimsuchten, mit ihren ganz anderen, uns
unverständlichen Werten und Methoden, fühlten wir plötzlich, daß wir
selbst ganz anders als sie waren... nur: wie sollte man das
beschreiben? Wie es nennen? In dieser Verlegenheit befindet sich jede
Kultur bei ihrem Erwachen. Wir (bzw. unsere damaligen geistigen
Eliten in den Klöstern) haben das drängende Problem dadurch gelöst,
daß wir uns zu "Christen" erklärten. Daß wir innerlich mit den
Christen im Circus Maximus der alten Römer rein gar nichts gemein
hatten, fiel nicht groß auf und störte darum weit weniger als das
Problem, sich nicht von den "fremden" Besatzern abgrenzen zu können.
Ein Problem, was dadurch zu lösen, sich den Namen einer von den
fremden Römern verfolgten Minderheit zuzulegen, offensichtlich
äußerst zufriedenstellend gelungen zu sein scheint. [Wenn es nicht
zugleich zum Ursprung so gefährlicher und bis heute anhaltender
Irrtümer und Mißverständnisse geworden wäre; ich sage nur:
"Kreuzzüge", die alten und die neuen!]

Was ich [und meine "geistigen Väter"] also als die Geburtsstunde
unserer Kultur betrachte, heißt im [Putzger] Historischen Weltatlas
leider auch heute noch: "Die Reformbewegungen der Mönche im
Mittelalter", die von Cluny und anderen Klöstern ausging und eine
völlige Neudefinition von Christentum bedeutete! In dieses Bild
passen -nebenbei bemerkt- in jüngerer Zeit auftauchende Fragen nach
rund drei Jahrhunderten, die es vielleicht gar nicht wirklich gegeben
hat, ausgezeichnet: Demnach könnte Karl der Große ein Fake dieser
Mönche gewesen sein. [Nahezu alle Dokumente aus der angeblichen
Karls-Zeit entpuppten sich mittlerweile als Fälschungen weit jüngeren
Datums, während Dokumente anderer Kulturen, wie z.B. der (älteren)
jüdischen, für den fraglichen Zeitraum praktisch nicht vorhanden
sind.] Man hätte also in den Klöstern, die damals die "absolute
Informationshoheit" innehatten, mit "Karl dem Großen" einfach einen
tollen Gründungsmythos geschaffen, der weit attraktiver war, als sein
vermutliches reales Vorbild, der ein ungehobelter Kerl namens
Chlodowech war und eindeutig VOR Karl so etwas wie ein "Reich" auf
etwa demselben Terrain geschaffen hatte, heute aber mehr und mehr in
Vergessenheit gerät. Und dabei hatte man durch die eingeschobenen
Jahrhunderte auch gleich noch vertuscht, daß man sich erst durch
fremde Besatzer überhaupt seiner selbst "bewußt" geworden war (wie
peinlich).

Ähnlich mag es den in Stagnation lebenden, rein
biologisch-menschlichen Nachkommen alter, vergangener Hochkulturen in
anderen Teilen des Planeten ergangen sein bzw. ergehen. Fremde kommen
und man fühlt, daß man selbst ganz anders drauf ist. Aber wie soll
man es deutlich machen, wie es nennen? Meine These ist nun, daß die
sich heute als Muslime betrachtenden Menschen ebenso wie wir damals
uns als Christen bezeichneten ohne mit den ersten Trägern dieses
Namens wirklich etwas Innerliches gemeinsam zu haben, nur nach diesem
Namen (Islam) gegriffen haben, um sich von den fremden Briten, Amis
etc. abgrenzen (bzw. ihrem "Sich-anders-Fühlen" Ausdruck verleihen)
zu können, die mit ihren unverständlichen Werten und Methoden ihre
Gegenden heimsuchten...

Nun ist noch jede menschliche Hochkultur in ihren Anfängen vor allem
vom Gefühl geprägt gewesen. "Ratio" spielt kaum eine Rolle. Erst mit
den Jahrhunderten verliert das Fühlen (und mit ihm inbrünstiges
Glauben) seine Kraft und Bedeutung, während allmählich das Denken
zunimmt und wenn dies alle geschnallt haben, wird dann von
"Aufklärung" gesprochen oder man nennt es anders, meint aber das
gleiche: nämlich, daß von nun an dem menschlichen Verstand und seinen
Möglichkeiten größter Respekt gezollt wird. Demnach hätten wir es bei
der "islamischen Welt" mit einer jungen menschlichen Hochkultur zu
tun. Und darüber, daß dieses faszinierende Schauspiel menschlicher
Hochkulturen dermaleinst nach unserem Abgang verspricht
weiterzugehen, sollte man sich als Angehöriger einer altersschwachen
Hochkultur (dieses -das letzte- Stadium einer menschlichen Hochkultur
wird gemeinhin als "Zivilisation" bezeichnet) eigentlich nur freuen.
Allenfalls bedauerlich ist, daß wir nicht mehr persönlich miterleben
werden, was aus dieser jüngsten aller je vorhandenen menschlichen
Hochkulturen einmal werden wird: wann wird ihre "Aufklärung"
stattfinden, wie wird sie aussehen, was wird der für sie typischste
Ausdruck auf künstlerischem Gebiet einmal sein, welche Leistungen
ihrer Kultur ihre eigene Zeit überdauern... ???

Wir in den "zivilisierten" Regionen der Welt sollten uns dafür stark
machen, daß es so etwas wie ein universelles Recht auf die
Entwicklung eigener Kulturen gibt, statt mit der allein unserem
Weltbild entsprechenden Errungenschaft der "individuellen"
Menschenrechte [oft genug nur als Vorwand] im Gepäck die Entwicklung
neuer Kulturen abzuwürgen, noch bevor diese auch nur erwachsen werden
konnten...

Und nicht zuletzt: Menschliche Hochkulturen bestehen -wie der Name es
ja bereits ausdrückt- aus Menschen und sind deshalb wie alles, was
lebt, sterblich oder: endlich. Ein Gedanke, der uns "Westlern", die
wir durch nichts so gekennzeichnet sind wie durch unseren
unstillbaren Drang nach Unendlichkeit, so wesensfremd ist, daß wir
ihn zu verdrängen gezwungen zu sein scheinen, sei es auf der
persönlichen, der allgemein menschlichen oder eben der kulturellen
wie auch der allgemein geschichtlichen Ebene. Doch auch wenn wir es
nicht wahrhaben wollen, stirbt alles Lebendige eines Tages - und zwar
auch ohne fremde Einwirkung. So wenig wie beispielsweise wir "neuen
Christen" seinerzeit in unseren Anfängen das Ende der antiken
Hochkultur (Kultur=Athen, Sparta etc. - Zivilisation=Rom)
herbeigeführt haben, so wenig muß etwa dieser "neue Islam" unser Ende
herbeiführen. Und keiner sollte glauben, was Huntington oder Bush&Co
uns darüber erzählen! Die mißbrauchen nur die Tatsache verschiedener
menschlicher Kulturen dazu, um einen möglichst großen Krieg
herbeizuführen, durch den sie sich wieder einmal vom
meistverschuldeten Land der Erde zum größten Gläubiger des Planeten
zu verwandeln hoffen. Zu dessen verlogener Legitimierung unterstellen
sie den eigenen Drang nach dem Unendlichen (Globalisierung, Eroberung
sogar des Weltraums) den anderen - obwohl nichts dafür spricht, daß
die Menschen in der (neuen) islamischen Welt mehr wollen, als von uns
Westlern in Ruhe gelassen zu werden. Und das, finde ich, ist ihr
gutes Recht!

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