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  • Irwisch

mehr als 1000 Beiträge seit 22.03.2005

Über die Machenschaften der Überwachungskapitalisten

Der Überwachungskapitalismus – Definition

1. Neue Marktform, die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre versteckten kommerziellen Operationen der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs reklamiert;

2. eine parasitäre ökonomische Logik, bei der die Produktion von Gütern und Dienstleistungen einer neuen globalen Architektur zur Verhaltensmodifikation untergeordnet ist;

3. eine aus der Art geschlagene Form des Kapitalismus, die sich durch eine Konzentration von Reichtum, Wissen und Macht auszeichnet, die in der Menschheitsgeschichte beispiellos ist;

4. Fundament und Rahmen einer Überwachungsökonomie;

5. so bedeutend für die menschliche Natur im 21. Jh. wie der Industriekapitalismus des 19. und 20. Jhs. für die Natur an sich;

6. der Ursprung einer neuen instrumentären Macht, die Anspruch auf die Herrschaft über die Gesellschaft erhebt und die Marktdemokratie vor bestürzende Herausfor-derungen stellt;

7. zielt auf eine neue kollektive Ordnung auf der Basis totaler Gewissheit ab;

8. eine Enteignung kritischer Menschenrechte, die am besten als Putsch von oben zu verstehen ist – als Sturz der Volkssouveränität.

Als Google, 1998 gegründet von den beiden Studenten Larry Page und Sergey Brin, an den Start ging – als das Internet gerade einer Vielzahl von Menschen verfügbar wurde –, ahnte noch niemand, was aus diesem harmlos anmutenden Unternehmen einmal werden sollte. Und bis heute scheint den meisten Benutzern dieser »Suchmaschine« nicht so recht bewußt zu sein, was sie in Wirklichkeit ist. Doch schon damals hatten die beiden Gründer hochtrabende Pläne: Sie wollten das Wissen der ganzen Welt indexieren, ohne jede Ausnahme, lückenlos und vollständig, so daß jeder auf alle weltweit verfügbaren Informationen Zugriff hätte. Finanziert wurde Google von Anfang an durch Produktpropaganda bzw. Reklame (man verwendet heute den euphemistischen Begriff »Werbung«), die anfangs allgemein, zunehmend aber gezielt platziert wurde. Google nutzte die eingegebenen Suchbegriffe, um dem Suchenden passende Reklame zu präsentieren. So weit, so gut, klingt ja erstmal noch ziemlich harmlos.

Im Lauf der Zeit erkannten die Google-Gründer und -Mitarbeiter jedoch, daß außer den Suchbegriffen noch weitere lukrative Daten anfielen: »Anzahl und Muster der Suchbegriffe, wie eine Suche formuliert, buchstabiert, interpunktiert ist, Verweildauer, Klickmuster, Ort« (1) usw. Diese Daten nannten Sie den Verhaltensüberschuß – kollaterale Verhaltensdaten, die sie dazu verwendeten, ein rechnergestütztes Lernsystem aufzubauen, um so die Suchergebnisse ständig verbessern und weitere Produkte wie Rechtschreibprüfung, Übersetzung und Stimmerkennung entwickeln zu können. Im Economist konnte man damals (2010) einen Artikel darüber lesen. Ein Auszug:

»Andere Suchmaschinen der 1990er-Jahre hatten dieselbe Chance, gingen ihr aber nicht nach. Um das Jahr 2000 sah Yahoo! das Potential, ließ die Idee jedoch wieder fallen. Bei Google dagegen erkannte man den Goldstaub im Schutt der Interaktionen mit seinen Usern und machte sich die Mühe, ihn einzusammeln ... Google nutzt die Informationen, die als Nebenprodukt der Interaktionen mit dem User anfallen, Datenabgase, wenn man so will, die automatisch recycelt wurden, um den Dienst zu verbessern oder um ein ganz neues Produkt zu generieren.« (2)

Diese »Datenabgase« bilden den Verhaltensüberschuß, der heute weltweit und von Milliarden Usern abgegriffen und kapitalistisch verwertet wird. Diese Daten enthalten nämlich höchst private und sensible Informationen über ihre Erzeuger, die Google-Nutzer. Inzwischen wurde dieses Modell von zahlreichen weiteren Firmen übernommen und wird derzeit noch immer ausgebaut und ausgeweitet.

Doch ist es beileibe nicht beim reinen Auswerten des Verhaltensüberschusses geblieben. Längst ist man dazu übergegangen, den Benutzern aller nur denkbaren »Dinge« des Internets (IoT, Internet of Things) Verhaltensmuster aufzudrängen und aufzuprägen und sie auf diese Weise zu steuern. Als scheinbar harmlosen Beginn dieser Technik hatte man 2016 das Spiel Pokémon Go erfunden: Die Spieler jagten in der realen Welt virtuellen Pokémons nach, indem sie, ihr Smartphone vor der Nase, Orte, Plätze und Lokalitäten aufsuchten, in denen sich angeblich ein solches »Wesen« verbergen sollte. Damit lockte man Menschen zu Orten, wo es etwas zu kaufen bzw. zu konsumieren gab, z.B. ein Café oder eine Kneipe usw. Andere Spielarten der Verhaltenssteuerung sorgen dafür, daß der Smartphone-User in der City ständig Reklame auf sein Handy bekommt, je nachdem, wo er sich gerade befindet.

Von Google und den anderen Datenfirmen, die mit Google vernetzt sind, werden die User ständig verfolgt: Man speichert alle verfügbaren Daten, um daraus Verhaltens-Vorraussagen errechnen zu können. Diese Voraussage-Daten werden dann dem Meistbietenden teuer verkauft. Im Lauf der Zeit erfuhren natürlich auch Geheim- und Sicherheitsdienste von diesen Möglichkeiten, was in ihnen entsprechende Begehrlichkeiten weckte. Immerhin bildet die Verrfügbarkeit dieser aufbereiteten Daten ein enormes Machtpotential. So kam es dazu, daß erst die US-amerikanischen Geheimdienste, allen voran CIA und NSA, später auch die Geheim- und Sicherheitsdienste anderer Länder auf Google-Daten zurückgriffen, woraus sich mit der Zeit eine bis heute anhaltende enge Zusammenarbeit zwischen Diensten und Google ergab.

Snowden hatte damals noch längst nicht alles aufgedeckt, was aus nachvollziehbaren Gründen verborgen ist. Nachdem ich das unten erwähnte Buch von Shoshana Zuboff (3) zum Thema Überwachungskapitalismus zur Hälfte gelesen hatte (bin noch immer nicht damit durch), mußte ich es erst einmal für eine Weile weglegen – zu bedrückend und entmutigend waren die dort präsentierten Informationen und Zusammenhänge. Die ganze Geschichte ist um ein Vielfaches schlimmer, als ich mir das jemals vorzustellen gewagt hätte. Wir sind bereits total vernetzt, überwacht, kontrolliert – und abhängig. Selbst Regierungen, Polizeiapparate und jeder, der bezahlen kann, wurde inzwischen von dieser Überwachungsmanie angesteckt. Der Überwachungskapitalismus verspricht seinen Kunden schier grenzenlose Macht und grenzenlosen Einfluß auf die zu melkenden, zu steuernden und zu manipulierenden menschlichen Schlafschafe. Hier wären wir wieder bei den Vorträgen von Rainer Mausfeld, der seine Zuhörer ständig ermahnt, sich selbst besser kennen zu lernen, damit sie nicht ständig auf alle psychologischen Tricks hereinfallen, die man ihnen vorführt.

Das im Artikel thematisierte Desinteresse der Welt-Bevölkerung an den beiden Whistleblowern Assange und Snowden ist natürlich medial gesteuert. Wenn ich manchmal Leute, die mir begegnen, frage, ob Snowden ihnen ein Begriff sei, antworten die meisten mit ja. Assange dagegen scheint kaum jemand zu kennen. Einige fragten sogar, ob das nicht dieser Vergewaltiger sei, der in Schweden steckbrieflich gesucht würde. Mein Eindruck, wenn ich durch die Straßen meiner Stadt gehe oder auch nur vom Balkon aus auf die Straße schaue, in der ich wohne: Die Anzahl der Handy-Zombies steigt weiter. Ein Handy-Zomby ist ein Mensch, der beim Gehen nicht mehr auf die Straße, den Weg, auf die Umgebung achtet, sondern den Blick vor allem auf sein Smartphone gerichtet hat und nur alle paar Sekunden kurz abcheckt, ob er nicht gerade im Begriff steht, einen Laternenpfahl oder eine Hauswand zu kontaktieren. Diese Menschen sind nicht mehr ansprechbar, sie bekommen fast nichts mehr davon mit, was um sie herum geschieht ...

(1) Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, S. 90

(2) Kenneth Cukier, »Data, Data Everywhere«, The Economist, 25. Februar 2010,
https://www.economist.com/special-report/2010/02/25/data-data-everywhere

(3) Das Buch hat 728 Seiten und ist sogar für mich harter Stoff, fast so bedrückend wie Bücher über rituellen Mißbrauch, die auch nur sehr schwer zu ertragen sind. Dennoch kann ich Zuboff's neuestes Buch jedem wärmstens empfehlen, der die ganze Geschichte des Umfangs der derzeitigen Überwachung erfahren will. So erwähnt die Autorin z.B. die Techniken, mit denen Trump die Wahl zum US-Präsidenten gewonnen hat – eine Art Testlauf zur massiven Wahlmanipulation, die man zur Ablenkung Putin angehängt hat.
https://books.google.com/books?id=IT9xDwAAQBAJ

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