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  • Raumflieger

432 Beiträge seit 12.08.2024

Re: Haben wir richtiges Projektmanagement verlernt?

Leider werden die Autos aus dem 1995er langsam knapp, auch weil der Rost seine Opfer fordert.

Aber ja, du hast Recht: die bessere Qualität gab es vor "Geiz ist geil" - und ist im Rückblick auch nicht wesentlich teurer gewesen. Berücksichtigt man die Lebensdauer der damaligen Produkte, ist das vermeintlich teurere Qualitätsprodukt vielfach günstiger gewesen als die billigen Alternativen.

Heute sind wir ja schon "dankbar", wenn ein gekauftes Haushaltsgerät nicht 2 Wochen nach Ablauf der Garantie den Geist aufgibt. Früher war eine vielfach höhere Lebenserwartung normal. Die Großmutter meiner Frau hat erst vor wenigen Monaten ihren alten "Metz" Fernseher in Rente geschickt - die hat bis dahin vor einem klassischen Röhrenbildschirm gesessen, die seit über 20 Jahren nicht mehr gebaut werden. Dagegen mein Smart-TV rund 3 Jahre nach Marktstart seine Smart-Funktion verloren hat mangels Updates durch den Hersteller. Immerhin funktioniert er noch als Fernseher und ist ca. 10 Jahre alt.

Ich bin ja nun in der Elektronikbranche beruflich unterwegs und sehe mit Argusaugen, in welche Richtung sich alles entwickelt. Funktionierende Hardware wird per Firmwareupdate unbrauchbar gemacht. Produkte, die seit 10 Jahren gefertigt werden, werden qualitativ immer schlechter, weil die damals geplanten Bauteile nicht mehr verfügbar sind oder durch minderwertigere Alternativen abgelöst werden. Selbst wenn man also als Hersteller Qualität liefern MÖCHTE, gibt der Markt sowas überhaupt nicht her.

Mal was aus dem Nähkästchen, mit welchem Irrsinn ich täglich konfrontiert bin:
Das fängt schon an bei solchen simplen Dingen wie einem Keramikkondensator (SMD). Bauform 0805 mit 25V Spannungsfestigkeit wird abgekündigt, wird nicht mehr gebaut. "Zum Glück" erlaubt das Layout die Verwendung eines Kondensators mit 0603 Bauform, Spannungfestigkeit 6,3V. In dem Netz hat man ein Potential von 5V zur Masse, also alles paletti, stimmts? Natürlich nicht! Die nächste Transiente (Schaltspitze) von über 10V kommt bestimmt und die liegt ÜBER den 6,3V. Selbst wenn nach Datenblatt der Kondensator sowas kurzfristig aushält ist das für die Lebensdauer abträglich. Wenn da regelmäßig Transienten drübergehen, stirbt der Kondensator früher oder später einfach.
Warum hat der Hersteller aber überhaupt den spannungsfesteren 0805 Kondensator abgekündigt? Weil davon weniger auf den Wafer draufpassen. Es können mehr 0603 Kondensatoren pro Wafer gefertigt werden. Wenn die aber zum gleichen Preis verkauft werden, wird pro Wafer also mehr verdient. Solange das Ersatzprodukt die Minimalanforderungen erfüllt, merkt keiner den Unterschied, oder? ODER?!
Business as usual - zulasten von Qualität und Langlebigkeit.

Übrigens: der Grund, warum manches Bauwerk 1000+ Jahre steht, liegt auch darin begründet, als dass die damaligen Architekten und Bauherren mit soliden Reserven gearbeitet haben. Die haben eben die Wände dicker gebaut, wetterfesteres Material verwendet, auch wenn's schwerer zu beschaffen war (Sandstein und Granit versus stahlarmierten Beton). Im Zweifel hat man 20 statt 10 tragende Säulen hingestellt, einfach damit die Kirche nicht einstürzt während der Messe.

Heute dagegen wird optimiert und auf Kante genäht. Willst du robuste Elektronik, muss die rein von den Komponenten her auf doppelt bis dreifache Spannungsfestigkeit hin ausgelegt werden, was die Komponenten betrifft. Auch die Leitungsstärken müssten fast doppelt so breit ausgelegt werden, wenn es um die Leitfähigkeit (Strom) geht. Das ganze muss abgesichert sein mit Sicherungen gegen Kurzschlüsse und Fehlerströme und wenn man wirklich ESD-Sicherheit haben will (also gegen elektrostatische Entladungen), muss man eben TVS-Schutzdioden verbauen. Verpolungsschutz gibts mit einer in Reihe geschalteten Schottky-Diode für kleines Geld, wer's sicher haben will, packt einen Vierwegegleichrichter rein. Der sorgt nicht nur dafür, dass aus einem Wechselstrom Gleichstrom wird, sondern polt jede Gleichspannung "richtigrum" um - und das bei hoher Effizienz, wenn man wieder auf Schottky-Dioden setzt und die Eingangsspannung mindestens bei 12V liegt.

All die Erkenntnisse in den letzten 50 bis 1000 Jahren könnte man also verwenden, um robuste Produkte herzustellen, die 100, 200 Jahre Lebensdauer hätten - wenn man nicht auf Kosten der Qualität optimieren würde, sondern Langlebigkeit und Produktsicherheit verfolgen würde, statt Profitoptimierung.

Ein Testament dafür sind übrigens die Voyager-Sonden, die trotz diverser Alterserscheinungen noch immer ihren Dienst tun, vielfach über ihre eigentliche Missionsdauer hinaus. Also Elektronik kann auch robust sein, wenn man nur will.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (18.09.2024 23:59).

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