Vielen Dank für diesen Link zur Standortwahl der Firma Stihl. Beim Lesen werden Zahlen genannt, die unser Bürokratieproblem drastisch beschreiben:
Von den fast 6000 Mitarbeitern, die wir in Deutschland beschäftigen, sind mehr als 5000 ‹Beauftragte›, die zusätzlich zu ihren normalen Aufgaben mit der Umsetzung irgendwelcher bürokratischer Anforderungen – Dokumentationen oder sonstigen Dingen – beschäftigt sind
Aus meiner Sicht kommen für dieses Problem drei Umstände zusammen:
1. Gesteigerter Fokus auf Compliance:
Niemand legt Wert auf Skandale, die den Produktabsatz gefährden. Mitarbeiter werden häufiger geschult, sich regelkonform zu verhalten. Regelwerke finden sich insbesondere in großen Unternehmen, kommen aber auch direkt vom Gesetzgeber. Ich glaube zudem, dass es umso mehr Leute gibt, die sich um Compliance als solche kümmern, je größer das Unternehmen ist.
2. Ständig neue Gesetzesvorschriften (Deutschland und EU)
Meine Favoriten sind DSGVO und ANÜ (Arbeitnehmerüberlassung), aber auch das Lieferkettengesetz sind Aufwandtreiber, die es früher nicht gab. Das führt teilweise zu extremem Mikro-Management, wo Mitarbeitern angeordnet wird, wann sie welche eMail-Signatur zu verwenden haben, wen sie direkt kontaktieren dürfen und wen nicht. Das ist der Tod für organische Prozesse.
3. Risikoaversion und *rsch-an-die-Wand-Taktik
Mit Risiken kann man auf zwei Arten umgehen. Ich akzeptiere das Risiko, dass ein Schaden eintritt und preise die Schadensbeseitigung in meine Prozesse ein, oder ich mitigiere das Risiko und definiere Maßnahmen, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit gegen 0 geht. Meine Beobachtung ist, dass sich das Mitigieren mittlerweile zum Standard entwickelt hat, und zwar aus dem erschreckenden Grund, weil oft niemand in der Lage ist, Risiko und Schaden zu verstehen. Um dann auf der sicheren Seite zu sein, wählt man den Weg der Mitigation durch was-auch-immer für Maßnahmen. Und diese Maßnahmen verselbständigen sich dann und werden ungefragt übernommen und ausgebaut, dann kommen auf diese Maßnahmen noch Überwachungen drauf. Ich glaube auch, dass einige in Unternehmen erkannt haben, dass man sich hier ohne viel Aufwand sehr wichtig machen kann, und so wird dieses System immer weiter perpetuiert.
Verbildlichen will ich das am Beispiel einer Leiter, die in einer Werkstatt eines mittelständischen Betriebs an die Wand gelehnt lagert. Ich kann akzeptieren, dass diese Leiter umfällt und dabei beschädigt wird oder Material/Personal beeinträchtigt, und zwar einmal in zwei Jahren. Und vielleicht wird das bei einer Arbeitsplatzbegehung auch irgendwann geprüft. Ich kann nun aber auch dahergehen und einen "Leiterwart" benennen, der einmal täglich prüft, ob diese Leiter im richtigen Winkel zur Wand und am richtigen Platz steht. Ferner kann ich den Leiterwart bitten, seine Überprüfung in einem SAP-System zu dokumentieren, und dann einen externen Prüfer beauftragen, viermal pro Jahr die Qualität des Leiterprüfberichts zu prüfen. Zudem wird einmal pro Jahr ein Leiterumfalltest durchgeführt, verschiedene Rollen werden definiert: Leiteraufsteller, Leitermaterialwissenschaftler, Arbeitssicherheitspezialist, Geschäftsführung, Werkstattleiter.
Und ganz schnell wird aus einer trivialen Sache ein komplexer Prozess, der knappe Ressourcen bindet und den Anteil wertschöpfender Arbeit reduziert.
Ich schreibe das, weil ich selbst leidgeprüft bin und mittlerweile vergleichen kann, wie ich vor 15 Jahren gearbeitet habe und wie ich heute arbeitet. Der Anteil der sinnlosen Qualitätsmanagement-Prozesse ist dramatisch angestiegen, und das sehr sichere Gefühl, Dokumente zu erstellen, die nieeee wieder jemand ansehen wird, löst Frustration aus.