Volle Zustimmung. Miller stellte in den meisten Ihrer Bücher jedoch physische Mißhandlungen als das hauptsächliche Übel dar. Sexueller Mißbrauch und Prügelstrafen scheinen ihr die wirkmächtigsten Faktoren zu sein, die zu späterer Gewaltbereitschaft und Empathielosigkeit führen müssen. In Ihrem Buch über das Drama des begabten Kindes jedoch schildert sie eine alltägliche Szene, mit der sie – aus meiner Sicht – die frühe Gehorsams- und Unterwerfungserziehung illustrierte:
Auf einem Spaziergang ging vor mir ein junges Ehepaar, beide groß gewachsen, neben ihnen lief ein kleiner, ca. zweijähriger Junge und quengelte. (Wir sind gewohnt, solche Situationen vom Erwachsenen aus zu sehen, und ich möchte hier absichtlich versuchen, sie vom kindlichen Erlebnis her zu schildern.) Die beiden hatten sich soeben am Kiosk ein Eis am Stiel gekauft und schleckten genüßlich daran. Der Kleine wollte auch einen solchen Stiel haben. Die Mutter sagte liebevoll: »Komm, du darfst von meinem einmal abbeißen, das Ganze ist zu kalt für dich.« Das Kind wollte nicht abbeißen, es streckte die Hand nach dem Stiel aus, den die Mutter ihm entzog. Es weinte verzweifelt, und nun wiederholte sich ganz die gleiche Situation mit dem Vater: »Da, Mäuschen«, sagte der Vater liebevoll, »du darfst bei mir abbeißen.« »Nein, nein«, rief das Kind, fing wieder an zu laufen, wollte sich ablenken, kam aber immer wieder zurück und schaute neidisch und traurig hoch hinauf, wo die beiden Großen zufrieden und solidarisch ihr Eis genossen. Immer wieder bot ihm eines der Eltern einen Biß an, immer wieder streckte das Kind sein Händchen nach dem Stiel aus, und dann zog sich die erwachsene Hand mit dem Reichtum zurück. Und je mehr das Kind weinte, um so mehr amüsierten sich die Eltern. Sie mußten sehr lachen und hofften, mit diesem Lachen auch das Kind erheitern zu können: »Guck mal, es ist doch gar nicht so wichtig, was machst du da für ein Theater.« Einmal setzte sich das Kind auf den Boden, mit dem Rücken zu den Eltern und fing an, kleine Kieselsteine hinter sich in Richtung auf die Mutter zu werfen, aber stand dann plötzlich auf und schaute beunruhigt, ob die Eltern noch da waren. Als der Vater an seinem Stiel alles gründlich abgeschleckt hatte, gab er ihn dem Kind und ging weiter. Der Junge versuchte erwartungsvoll, an dem Stück Holz zu schlecken, schaute es an, warf es weg, wollte es wieder aufheben, tat es nicht, und ein tiefes, einsames Aufschluchzen voll Enttäuschung erschütterte sein Körperchen. Dann trottete er brav hinter seinen Eltern her. Es schien mir klar zu sein, daß der kleine Junge nicht in seinem »oralen Triebwunsch« frustriert wurde, denn er hätte ja mehrmals abbeißen können, aber er wurde dauernd gekränkt und frustriert in seinen narzißtischen Bedürfnissen. Es wurde nicht verstanden, daß er den Stiel wie die anderen in der Hand haben wollte, ja noch mehr – es wurde darüber gelacht, man hat sich über sein Bedürfnis lustig gemacht. Er stand zwei Riesen gegenüber, die sich, stolz auf ihre Konsequenz, gegenseitig noch unterstützten, während er mit seinem Schmerz ganz allein war, außer »Nein« offenbar noch nichts sagen konnte und sich mit seinen Gesten (die sehr ausdrucksstark waren) bei diesen Eltern nicht verständlich machen konnte. Er hatte keinen Anwalt. ... Die Verachtung für diesen Kleineren, Schwächeren ist so der beste Schutz gegen den Durchbruch der eigenen Gefühle der Ohnmacht, sie ist Ausdruck der abgespaltenen Schwäche. Der Starke, der um seine Ohnmacht weiß, weil er sie erlebt hat, braucht nicht mit Verachtung Stärke zu demonstrieren.
irwish.de/pdf/Miller-Drama_des_begabten_Kindes.pdf Kapitel 3: Über die Verachtung
Pentimento schrieb am 30.07.2017 11:45:
Suchtabhängigkeit, Hass, Grausamkeit und völlige Gefühllosigkeit dem Leid Anderer gegenüber können die Folge der schwarzen Pädagogik sein. Ein gutes Beipiel für Letzteres ist m.E. unsere schwarze Null.
Wie zahlreiche andere Autoren – z.B. Gruen, Fromm, Maaz, Huether – in ihren Büchern sehr ausführlich zeigen, besteht "Schwarze Pädagogik" nicht einfach nur in dem »Trick«, Kinder bei unerwünschten Verhaltensweisen körperlich zu züchtigen. Die Hauptarbeit der Sozialisierung – der zwangsweisen Anpassung an die jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen und Normen – erledigt die Abweisung natürlicher Regungen, wenn sie nichts ins Bild der Eltern passen oder aber bei den Eltern längst verdrängte Gefühle und abgespaltene Selbstanteile anregen.
Wer ist die "unsere schwarze Null"?