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  • spintronic

979 Beiträge seit 02.10.2015

Re: Das Atom-Aus kann man Habeck nicht an die Backe nageln ...

SATFVT schrieb am 29.04.2024 09:26:

Der Stromhandel ist schlicht günstiger.

Kurzfristig und bei entsprechenden Rahmenbedingungen, d.h. einer Überproduktion von elektrischem Strom, kann diese Betrachtungsweise richtig sein. Aus einer übergeordneten Perspektive betrachtet ist diese Aussage aber völlig falsch und sie verfehlt die eigentliche (wirtschaftliche) Problematik.

Warum ist sie falsch? Das ist einfach, elektrischer Strom muss produziert werden, bevor er gehandelt werden kann. Tagsüber im Sommer erzeugt PV gewaltige Überschüsse, die nicht im notwendigen Maße für die Nacht und den Winter gespeichert werden können. Dadurch werden die Übertragungsnetze enorm belastet, das Netz kommt in einen instabilen und für kleine Störungen enorm anfälligen Zustand. Ferner müssen diese "Überschüsse", auch "Schrottstrom" genannt, für teures Geld vernichtet werden. Beispielweise indem die DB im Sommer die Gleisheizungen aufdreht oder indem man den Strom ins Ausland leitet und für die Vernichtung des Stroms viel Geld bezahlt - Stichwort negative Strompreise. Gleichzeitig liefern die EE insbesondere im Winter viel zu wenig Energie, weshalb der elektrischen Strom im Winter an der Börse sehr teuer gehandelt wird. Selbstredend gilt dies nicht nur in Deutschland, da der europäische Stromhandel den Strom in ganz Europa verteuert.

Diese Situation setzt völlig verkehrte Marktanreize und führt dazu, dass der Bau der im Winter sehr dringend benötigten konventionellen Kraftwerke von Investoren nicht finanziert werden kann. In Deutschland müsste man gem. Umweltministerium ganz dringend 50 bis 70 Gaskraftwerke bauen, nur finden sich dafür keine Investoren. Diese negative Rückkopplung verstärkt den Strommangel im Winter und auch der beste Stromhandel der Welt kann diesen Mangel nicht beheben. Durch die hohen Börsenpreise wird der Mangel lediglich verwaltet, indem gewisse Marktteilnehmer die Produktion von Dienstleistungen und Gütern drosseln und dadurch elektrischen Strom sparen - oder wie viele energieintensive Betriebe, gleich ins außereuropäische Ausland abwandern.

An alle Schlaumeier, die nun argumentieren, dass sie für den elektrischen Strom im Winter nicht mehr bezahlen müssen, da sie einen Vertrag mit dem Tarif XY haben, möchte ich folgendes sagen:

- Erstens, ich beziehe mich auf die Börsenstrompreise nicht auf die Verbraucherpreise.

- Zweitens macht ein Stromversorger selbstredend eine Mischrechnung, d.h. Privatkunden zahlen im Sommer für den elektrischen Strom zu viel und im Winter zu wenig, denn der Stromversorger kauft den Strom im Sommer billig und im Winter teuer.

- Drittens hilft eine eigene PV-Anlage gegen die hohen Preise für den Strom, aber je mehr Menschen im Sommer den Strom selbst erzeugen, während sie im Winter praktisch 100 % des Stroms aus dem Netz anfordern müssen, desto teurer wird der Strom aus dem Netz werden, da die Netz- und Integrationskosten (der EE) auf die nun weniger kWh der Privatstromkunden umgelegt werden müssen. Wohlgemerkt ich bin ein Fan von PV, aber alles hat seine (technischen) Grenzen.

Nun zur Frage, warum die Aussage "der Stromhandel ist schlicht günstiger" die eigentliche Problematik verfehlt. Um den darin enthaltenen Denkfehler zu erkennen muss man die Geldflüsse betrachten. Das Kraftwerk XY in Deutschland kauft Uran aus dem Ausland und stellt damit große Mengen an elektrischem Strom her. Der Strom wird zu etwa 70 % an die Industrie in Deutschland verkauft, die Industrie fertigt Produkte und verkauft diese Produkte (noch?) mit Gewinn ins Ausland.

Mit einem Teil des Gewinns wird der Betreiber des Kraftwerks entschädigt. D.h. abgesehen von den Brennstoffkosten, bei Uran fallen diese infolge der sehr hohen Energiedichte kaum ins Gewicht, bleibt der größte Teil der Wertschöpfung in Deutschland und finanziert so, über Steuern und Löhne der Angestellten, den deutschen Staat. Produziert man den elektrischen Strom nicht selbst, sondern importiert z.B. Atomstrom aus Frankreich oder in wenigen Jahren Atomstrom aus Tschechien, dann fließt ein nennenswerter Teil der in Deutschland erarbeiteten/erzielten Wertschöpfung ins Ausland ab. Die in/für Deutschland verfügbare Geldmenge sinkt, die Menschen werden ärmer und die Steuereinnahmen sinken. Die Investitionen in Forschung und Entwicklung, Produktionsanlagen, aber auch in die Infrastruktur schrumpfen. Genau das lässt sich heute beobachten und das Problem für die Volkswirtschaft ist im Kern immer der Abfluss des Geldes. Wobei es natürlich richtig ist, dass Geld auch aus anderen Gründen ins Ausland abfliesst, dennoch ist es ein schwerer Fehler, wenn man diesen Mechanismus aus ideologischen Gründen noch befeuert.

Erschwerend kommt hinzu, dass in Deutschland hergestellte Produkte u.a. infolge der in Deutschland sehr hohen Rohstoff- und Energiepreise, trotz stark gesunkener Gewinne, auf dem globalen Marktplatz mittlerweile nur noch schwer verkäuflich sind.

Es ist aus einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise für einen Industriestaat hochgefährlich bis existenzbedrohend, wenn er sich statt auf eigene Produktion von Strom, 24/7, im Winter wie im Sommer, auf den Stromhandel, d.h. den Bezug des Stroms aus dem Ausland ohne ausreichende eigenen Produktionskapazitäten, bzw. bei EE einem entsprechenden Netzausbau und ausreichenden saisonalen Energiespeichern, verlässt. Vor diesem Hintergrund halte ich den offensichtlich von Ministerialbeamten eigenmächtig, faktenwidrig und überstürzt aus rein ideologischen Gründen, mitten in einer sehr schweren Energiekrise, herbei gelogenen Atomausstieg für einen unverzeihlichen Fehler, der dringend politisch aufgearbeitet werden muss.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (29.04.2024 12:21).

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