Die Warnung, die liberale Pandemiepolitik in Schweden sei "völlig verantwortungslos"? Auch das offenbar eine Fehleinschätzung, denn die Infektionszahlen dort gehören – warum und wie nachhaltig, das mag man diskutieren – zu den derzeit niedrigsten in Europa.
Rechnet man auf der Seite "world in data" die ersten 3 Monate händisch raus, also die Monate März bis Mai, in den nachweislich in Schweden Fehler insbesondere beim Schutz der Pflegeeinrichtungen und Altenheim gemacht wurden, dann steht Schweden bei den meisten Eckwerten sogar besser da als viele andere Lock-Down Länder mit vergleichbarer Bevölkerungsstruktur und einem vergleichbaren Gesundheitswesen in der EU.
Die schwedische Regierung hat von vorne herein auf die Eigenverantwortung ihrer Bürger gesetzt. Es gab moderate Beschränkungen hinsichtlich der maximalen Personen in Restaurants oder bei Großverantstaltungen. Aber meines Wissens nach wurde nie ein Bereich vollkommen geschlossen.
Trotzdem sind die Zahlen nun schon seit über einem Jahr besser als in vielen anderen europäischen Ländern.
Warum ist dies so?
Kenner der schwedischen Mentalität meinen, es läge am eh schon unterkühlten, distanzierten Wesen der Schweden. Bussi link, Bussi recht ist dort nicht. Die Menschen wahrten von sich Distanz.
Das in nördlichen Ländern Alkohol erheblich teuerer ist, könnte eine Rolle spielen. Alkoholbedingte Enthemmung und die damit verbundene Amnesie bez. Corona Maßnahmen könnte eine Rolle spielen.
Vielleicht liegt es auch in der menschlichen Natur, nach einer Phase des Lock-Downs verpasstes nachzuholen? Die Wellen, die insbesondere in Lock-Down Ländern verstärkt auftreten, könnte auch auf "Nachohleffekte" zurückzuführen sein. Ich habe schon mehrfach, alleine aus regelungstechnischer Sicht wegen der Latenz und der fehlenden Validität der Daten, anhand derer die Politik meint, Maßnahmen scheinbar objektiv begründen zu können, die Meinung vertreten, dass man besser dauerhaft mit "angezogener Handbremse" durch die Pandemie kommt. Oder fachlich korrekter, dass man rechtzeitig vor der nächsten Welle im Herbst einen Gang zurück schalten muss.
Alleine der Umstand, dass man in Schweden keine Feindbilder braucht, um eine offenkundig weitgehend wirkungslose Pandemiepolitik zu rechtfertigen, wäre schon Grund genug, sich einmal ausführlicher mit dem schwedischen "Sonderweg" zu beschäftigen.
Doch hierzulande gehen bei den Verantwortlichen in Politik und Medien sofort die Klappen runter, wenn man auch nur wagt, "Schweden" zu sagen. Solange es keine negativen Schlagzeilen sind, will man nichts davon hören.
Unsere Entscheidungsträger sind diesbezüglich genau so blockiert und für Fakten und ergebnisoffene Diskussionen nicht mehr erreichbar wie sie selbst den Gegnern ihrer Maßnahmen unterstellen.
Wobei auch dies eine zutiefst menschliche EIgenschaft ist. Viele Menschen neigen dazu, ihre eigenen Verhaltensweisen auch anderen Mitmenschen zu unterstellen.
Wenn Politiker und Sprachrohre in den Medien verbreiten, Gegner der Corona-Maßnahmen seien mit Argumenten nicht mehr zu erreichen, dann trifft dies mindestens in gleichem Maß auch auf sie selbst zu.
Es reicht ja, mal in eine der wenigen Talksendungen zu schauen, in denen auch mal ein vereinzelter Kriitiker zu Worte kommen darf. Auf gewohnt aggressive und rüde Weise wird dort reingeredet, unterbrochen und moralisiert. Solche "Debatten" gleichen in weiten Teilen eher einer Inquistion als einem Dialog.
Aber es war schon immer schwieriger, das eigene Brett vorm Kopf zu entdecken als das des Gegenüber. Vor allem für Menschen, die mit einer Grundhaltung durchs Leben gehen, in deren Wahn sie meinen, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen und die Wahrheit für sich gepachtet.
Traurig ist nur, dass am Ende der deutsche Weg Opfer gekostet hat und all die Mühen und Anstrengungen im Vergleich zu Schweden kaum noch zu rechtfertigen sind.