Das ist fast alles durchaus richtig gesehen, leidet jedoch an einer gewissen Einäugigkeit. Indizien finden sich in diversen Beispielreihen:
...eine Tendenz, die man von der Machtübernahme Putins in Russland über Ungarn und Orbán bis hin zu Erdogans AKP und der polnischen PIS gut beobachten kann.
Hier passt Putin eindeutig nicht hinein, so wenig wie Erdogan, weil die politische Situation in Russland mit derjenigen in einem EU-Land nicht zu vergleichen ist. Putin kam nach dem Interregnum eines korrupten Saufboldes an die Macht und musste sich lange damit beschäftigen einer völlig demoralisierte Bevölkerung wieder ein wenig Selbstachtung einzuflössen. Dass ihn Riethmüller hier einreiht zeigt, dass er der westlichen geostrategischen Frontbildung auf den Leim geht. Wäre Putin nicht von Anfang an von westlichen Politikern des juste milieu gemobbt worden, gäbs auch kaum Kontakte zu den europäischen Rechtsauslegerparteien. Offensichtlich orientiert sich der Autor hier ziemlich undiffernziert am Ranking der in den Mainstream-Medien meistkritisierten Staatschefs.
Auch bei den rechten Neologismen herrscht in seiner Aufzählung ein beträchtliches Durcheinander. 'Rapefugee' umstandslos neben 'Demokratur' zu stellen ist gedankenlos. Bei Zweiterem kann man sogar eine durchaus auch linke Genealogie vermuten.
Das eigentliche Problem aber ist Riethmüllers Kritiklosigkeit gegenüber dem Correctnes-Diskurs. Dieser wird in gewissen Kreisen ganz eindeutig in dogmatischer Weise überhöht und mutiert zu einer Art Ersatzreligion. Linke Kerninhalte sind in mancher etablierten Partei von Individualidentitäts-Fragen überwuchert, ja verdrängt. Die extreme Ausdifferenzierung von Gender-Positionen oder Rassismustypen steht im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu politischer Relevanz. Dass Menschen, die sich ökonomisch über den Tisch gezogen fühlen, nicht übermässig viel Verständnis dafür aufbringen, ist leicht nachvollziehbar und a priori nicht rechts, bietet rechten Schlangenfängern aber willkommene Anknüpfungspunkte.
Was anfangs ein Zeichen für Politisierung ist, riskiert durch Verabsolutierung zu einem Weg aus der Politik hinaus zu mutieren. Um ein Beispiel zu nennen; sicherlich trifft es zu, dass die Polizei in den usa - nicht nur dort selbstverständlich - ein arges Rassismusproblem hat, dass überproportional viele Schwarze von Polizisten erschossen werden. Das Problem geht aber deutlich tiefer, denn die u.s.-Polizei erschiesst in noch extremer überproportionaler Weise Arme jeglicher Hautfarbe. Der Hinweis auf die sozioökonomische Schichtung ist nicht eine Ablenkung, sondern Einbettung in genuin linken Diskurs, der sich an der Oben-Unten, nicht der Innen-Aussen-Achse orientiert.
Der vom Autor verwendete Entschämungsbegriff ist fruchtbar - übrigens ein Beleg, dass nicht nur Rechte mit neuen Wortschöpfungen glänzen -, sollte aber einhergehen mit einem kritischen Blick auf alle Seiten. Und bei Riethmüller steckt offensichtlich zu viel unreflektierter Mainstream, wohl auch Relotius drin.